Soziologe über Coronaproteste

Feindbild Staat

10:34 Minuten
Ein Polizist bewacht eine Gruppe Demonstranten der Querdenker.
Verdachtsfall für den Verfassungsschutz: "Querdenker" in Berlin. © picture alliance /dpa / Andreas Gora
Sebastian Koos im Gespräch mit Julius Stucke |
Audio herunterladen
Teile der Berliner Coronaprotestbewegung sollen durch den Verfassungsschutz als Verdachtsfall eingestuft werden. Über die Demos hat der Soziologe Sebastian Koos geforscht. Auch viele Menschen aus dem bürgerlichen Lager hätten sich radikalisiert.
Nachdem sich der Verfassungsschutz auch schon in Hamburg, Bayern und Baden-Württemberg mit der Bewegung beschäftigt hat, sollen nun auch Teile der Berliner Coronaprotestbewegung durch den Verfassungsschutz als "Verdachtsfall" eingestuft werden. In diesem Zusammenhang bedeutet "Verdachtsfall" eine Vorstufe zur "gesicherten extremistischen Bestrebung".
Trotzdem kann der Verfassungsschutz auch bei Verdachtsfällen sogenannte "nachrichtendienstliche Mittel" einsetzen, darf etwa V-Leute anwerben oder Akteur:innen observieren. Auch eine Überwachung der Kommunikation ist möglich. Allerdings muss jede Maßnahme begründet werden, bei "Verdachtsfällen" ist die Schwelle dafür höher als bei gesicherten Fällen.

Neue Form des Extremismus

Der Verfassungsschutz sieht in den Coronaprotesten laut ARD eine neue Form des Extremismus. Das erschwere die Einordnung. Die Proteste dienten vielen Menschen als Ventil, die ohnehin das Vertrauen in Politik und Medien verloren hätten. Rechtsextremisten seien zwar Teil der Proteste, aber nicht richtungsweisend. Der Verfassungsschutz spricht von einer neuen Form des Extremismus, die die Einordnung schwer mache.


Extremismus definiere sich durch die Ablehnung des Verfassungsstaates und der repräsentativen Demokratie, erklärt Sebastian Koos, Soziologe an der Uni Konstanz. Für eine Studie der Uni Konstanz habe man die Coronaproteste beobachtet und die Protestierenden befragt. Demnach handele es sich bei den Teilnehmenden um eine "heterogene Misstrauensgemeinschaft".
"Heterogen, weil sie sich aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen rekrutiert, aber durch ein starkes Misstrauen in politische Institutionen gekennzeichnet ist. Das geht einher mit einem doch sehr ausgeprägten Glauben an Verschwörungstheorien und einem extremen Misstrauen gegenüber staatlichen politischen Institutionen, auch gegenüber den öffentlichen Medien. Und tatsächlich fühlen sich die Teilnehmenden abgehängt von der Politik. Sie haben kein Vertrauen in die repräsentative Demokratie."

Wunsch nach einer "Volksdemokratie"

Die Studie habe zudem ergeben, dass sich die Protestierenden zwar keine Diktatur wünschen würden, aber die Befragten würden glauben, dass die aktuelle Demokratie "dysfunktional" sei und sie würden sich eine "andere Form von Demokratie" wünschen, "möglicherweise eine direktere Volksdemokratie oder so etwas".
Allerdings seien solche Überlegungen nicht neu, sagt Koos. Neu sei hingegen, dass sich diese Wünsche "nicht klassisch links oder rechts" zuordnen lassen würden. Bei den Coronaprotesten habe man die unterschiedlichsten Gruppen, die "unter einem großen gemeinsamen Schirm und einer großen gemeinsamen Klammer des Dagegenseins zusammenkommen". Und darunter befinde sich auch ein großes bürgerliches Lager.

Radikalisierung und fehlende Dialogbereitschaft

Menschen, die zuvor "apolitisch" gewesen seien, würden an den Protesten gegen die Coronamaßnahmen teilnehmen, die sich scheinbar über die letzten Monate auch radikalisiert hätten. Es handelte sich dabei um einen "bestimmten Prozess der Radikalisierung", bei dem Menschen zunehmend ein Feindbild aufbauten, in eine parallele Wissenswelt abgeglitten seien und sich einem Dialog entziehen würden, sagt der Soziologe.
Diese Blase, in der sich diese Menschen befänden, scheine auch immer stärker zuzunehmen. Das zeige beispielsweise auch die zunehmende Gewalt gegenüber Journalisten.
Was wiederum auch kennzeichnend für den Extremismus der Coronaproteste sei, sei das "Verständnis einer korrupten Elite und einem wahren Volkswillen, ein klassischer populistischer Antagonismus", der konstruiert werde. Zudem begebe man sich ein stückweit auch in eine Opferrolle. Man hinge dem Glauben an, man gehöre einer Gruppe an, die den "wahren Volkswillen" kennen würde.

Teilnehmende leiden unter der Pandemie

Die Gespräche mit den Teilnehmenden hätten aber auch ergeben, dass viele in einer extremen Situation seien und sozial, wirtschaftlich und gesundheitlich unter den Folgen der Pandemie und den Maßnahmen litten. Dafür könne man auch Verständnis haben.
Problematisch sei dennoch, dass auf den Demonstrationen bewusst Falschinformationen und Verschwörungserzählungen gestreut würden. Die Pandemie werde für eigene Zwecke instrumentalisiert. Das Feindbild sei der Staat, deshalb solle man auch genauer hinschauen, sagt Koos.
(jde)
Mehr zum Thema