Soziologe Stefan Selke

"Wir können ein Land mit Utopien werden"

09:40 Minuten
Ein Schild vor einem Haus mit der Aufschrift Rep. Utopia.
Wie kann eine utopische Welt aussehen, in der wir unsere "Vollkasko-Mentalität" abgelegt haben? Mit dieser Frage beschäftigt sich Soziologe Stefan Selke. © Unsplash / Alexandre Brondino
Moderation: Ute Welty · 29.06.2020
Audio herunterladen
Die Corona-Pandemie sorgt für viel Unsicherheit und erschüttert unser Bedürfnis nach Planbarkeit. Der Soziologe Stefan Selke sieht das als Chance und fordert, die "Lust an der Verunsicherung" zu entdecken.
Pandemien wie aktuell Covid-19 bringen unsere Vorstellungen von der Zukunft durcheinander. Sie verändern das tägliche Leben rasant und bedrohen das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit und Planbarkeit.
Der Soziologe Stefan Selke erklärt, warum wir vor allem der Politik die Schuld an der derzeitigen Lage geben: "Wir haben das existenzielle Grundbedürfnis nach Sicherheit und Zukunftswissen kulturell veredelt", sagt der Professor für Soziologie an der Fakultät Gesundheit, Sicherheit, Gesellschaft der Hochschule in Furtwangen. Und die Politik sei Teil dieser Veredelung.

Politik kann den Zukunftskonflikt nicht lösen

"Die Politik macht aus der Notwenigkeit, Zukunftswissen zu erzeugen, eine Art Besitzstandswahrung", so Selke. Aus einem "So könnte es sein" werde ein "So soll es sein" und während Corona sogar ein "So soll es immer bleiben".
Selke konstatiert eine "Art Vollkasko-Mentalität in den gesättigten Wohlstandgesellschaften" und plädiert dafür, neu über grundlegende Fragen nachzudenken. Die zentrale Frage dabei sei: Wie wollen wir künftig zusammen leben?
Bisher hätten alle Masterpläne der Menschheit Schwächen gehabt. "Zukunft lässt sich nicht einfach mechanisch durchplanen, sondern wächst organisch", sagt der Soziologe. Das müsse man ehrlich erkennen, fordert er.

Weg von Privilegien

Selke sieht in der aktuellen Situation eine Chance: "Wir müssen nicht an unseren alten Privilegien festhalten, sondern könnten zu Utopien, etwa über soziale Gerechtigkeit, zurückkehren. Wir könnten über neue Ziele gemeinsam diskutieren, statt immer wieder Standardwelten zu reproduzieren."
Porträtaufnahme von Stefan Selke, Soziologe an der Hochschule Furtwangen.
Nennt Künstlerinnen und Künstler als mögliche Vorbilder für alle: der Soziologe Stefan Selke.© picture alliance / Horst Galuschka
Künstlerinnen und Künstler seien Lehrbeispiele dafür, wieder "Lust an der Verunsicherung" zu entwickeln, so der Professor, dessen Forschungsschwerpunkt der gesellschaftliche Wandel ist. Denn diese würden diese Lust seit jeher leben.
Zwar zeigt Selke Verständnis für den Wunsch vieler, an Altbewährtem festzuhalten. "Insgesamt bringt das eine Gesellschaft aber nicht weiter, solange das Ziel besteht, dass man das Gemeinwohl fördern oder neu erfinden möchte."
Eine totale Sicherheit gebe es einfach nicht. Es gehe es um die Gestaltung einer sinnhaften Zukunft, und dafür brauche es ein anderes Denken. "Wir könnten ein Land mit Utopien werden", sagt Selke - und erinnert an die Zeit vor Corona, in der die Fridays-for-Future-Bewegung bereits an der gesellschaftlichen Umgestaltung arbeitete.
(lsc)
Mehr zum Thema