Soziologe Christoph Kucklick

Wie die Digitalisierung den Durchschnitt tötet

Datenzentrumschef Joel Kjellgren läuft durch die Serverräume im schwedischen Lapland.
Digitalisierung als Herausforderung für die Demokratie? © AFP / JONATHAN NACKSTRAND
Von Vera Linß · 07.01.2015
Individuell zugeschnittene Therapien und selbstfahrende Autos, aber auch die gezielte Beeinflussung von Wählern: Der Soziologe Christoph Kucklick analysiert in seinem Buch "Die granulare Gesellschaft" die Folgen der Digitalisierung - und zeigt, wie sehr sie die Demokratie fordern.
Eigentlich hätte der vierjährige Felix gute Aussichten, mit seiner Krankheit klar zu kommen: Seit er an Diabetes erkrankt ist, erfassen seine Eltern minutiös seine körperlichen Werte - Blutzucker, Herzschlag und Anzeichen von Stress. Präzise Daten, nach denen Insulin verabreicht werden könnte, und zwar genau dann, wenn der Junge es braucht. Wären da nicht Felix' Ärzte. Sie bestehen auf einer Standardbehandlung - mit festgelegten Insulininjektionen.
Bald gehört solch eine Erfahrung der Vergangenheit an, sagt der Soziologe Christoph Kucklick. In der "granularen Gesellschaft", die er in seinem Buch entwirft, wäre Felix kein Spezialfall mehr. Dank digitaler Medien könne bald jeder derart genau vermessen werden, dass die grobe Wahrnehmung des Einzelnen durch eine "granulare" - eine feinkörnige - ersetzt werde.
"Der Durchschnitt ist tot", so Kucklick weiter. Das neue Menschenbild sei der "homo granularis". Die neue Handlungsmaxime laute dann: Unterschiedliches auch unterschiedlich zu behandeln.
Die "Differenz-Revolution" ist nur eine von drei großen Umwälzungen, die Kucklick als Folge der Digitalisierung ausmacht. Die "Intelligenz-Revolution" verteile Wissen neu und führe zu einer Neudefinierung von Mensch und Maschine und die "Kontroll-Revolution" sorge dafür, dass die Bevölkerung sozial ausgedeutet und gesteuert werde – und das ganz individuell.
Eine neue Qualität in der Debatte um die Digitalisierung
In vielen Bereichen werden diese Revolutionen schon jetzt sichtbar, wie der Soziologe detailliert belegt. Etwa in der Politik, wenn US-Präsident Obama jeden Einzelnen seines Wahlvolkes von Daten-Analytikern darauf "runterrechnen" lässt, ob und wie er beeinflusst werden kann. Oder im Verkehr, wenn Autos bald ganz ohne menschliche Fahrer auskommen.
Viele Beispiele, die Christoph Kucklick anführt, sind zwar nicht neu, aber seine Analyse ist es – sie macht sein Buch lesenswert und stellt eine neue Qualität in der Debatte um die Digitalisierung dar. Mit nüchternem Blick und ohne den sonst üblichen Alarmismus nimmt er jede drei "Revolutionen" unter die Lupe und macht klar, wie sehr unsere Demokratie gefordert ist und Institutionen drohen, sich durch die Daten aufzulösen.
"Krise der Gleichheit" nennt Kucklick eine der Schattenseiten der "Granulität". Denn eine "Medizin der Individualität", wie er sie Patienten wie Felix in Aussicht stellt, mag erstrebenswert sein, doch wer stellt sicher, dass zu großes Detailwissen über die Gesundheit ihrer Mitglieder nicht von Versicherungen oder vom Staat zur Kategorisierung von Menschen missbraucht wird?
Wie lässt sich überhaupt Solidarität in einer Gemeinschaft noch legitimieren, wenn doch jedes "Fehlverhalten" detailliert per Datenanalyse zugeordnet werden kann? Oder wer ist schuld, wenn Maschinen Fehler machen, ein selbstfahrendes Auto zum Beispiel einen lebensgefährlichen Unfall baut? Wichtige Fragen in einem klugen Buch.

Christoph Kucklick: Die granulare Gesellschaft. Wie das Digitale die Wirklichkeit auflöst
Ullstein Verlag, Berlin November 2014
272 Seiten, 18 Euro

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