Gesellschaftswandel

Wie die Digitalisierung unser Leben verändert

Ein junges Mädchen arbeitet an einem iPad.
Ein junges Mädchen arbeitet an einem iPad. © picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert
Von Laf Überland · 11.11.2014
Verändert die digitale Revolution unser Leben grundlegender als der Fall der Mauer oder der Untergang der Sowjetunion? Merken wir es nur nicht richtig, weil sie kein festes Datum hat? Ein Annäherungsversuch.
Früher, wenn einem Leute entgegenkamen auf der Straße und lauthals vor sich hin redeten, da wusste man: Die sind gestört - und versuchte schnell an ihnen vorbeizukommen. Heute telefonieren die natürlich in der Regel.
Was hat sich sonst noch geändert durch die digitale Revolution - bei uns, den Nutzern? Früher wurde man vor Stammtischparolen durch eine Kneipentür geschützt, inzwischen ist man ihnen in den Kommentarspalten aller öffentlichkeitswirksamen Blogs heillos ausgesetzt. Und die Kids, die mit dem Handy aufgewachsen sind, benutzen zum Klingelknopfdrücken den Daumen, sagen englische Wissenschaftler, weil der viel muskulöser und beweglicher ist als der Zeigefinger. Und dann gibt's ja auch viele Leute, die beim Autofahren keine Karten mehr lesen können und demnächst auch beim Wandern ...
Kanzlerin Angela Merkel: "Das Internet ist für uns alle Neuland..."
Was sich aber wirklich verändert hat, ist die Geschwindigkeit unseres Alltags! Eine Evolution der Wirklichkeit hat sich, anscheinend, um uns herum vollzogen: Von einem gemächlichen Fluß scheint sie zu einem wild aufeinanderfolgenden Stakkato von Augenblicken zersplittert zu sein: Man sieht das nicht nur an den Kids, die nachts nicht schlafen können, weil sie Angst haben, die neueste WhatsApp-Nachricht zu verpassen.
Ohne Besinnung werden wir besinnungslos
Die Gegenwart ist Vergangenheit, bevor der Teilnehmer sie sich vergegenwärtigen kann! Und wer das Tempo reduzieren will, muss aussteigen.
Immer öfter liest man in Zeitungen und Magazinen spannende Erfahrungsberichte von Journalisten, die sich mal für eine, zwei oder drei Wochen aus ihrem digitalen Alltag ausstöpseln und den Laptop baumeln lassen. Und meist lesen sich ihre Aufzeichnungen wie Berichte von Expeditionen in ferne Länder. Allen gemeinsam ist, dass die Probanden nach Abschluss ihres Experiments in kürzester Zeit wieder unter den Tempodruck rutschen.
Das Problem ist, dass Besinnung nicht mehr vorgesehen ist. Nur - ohne Besinnung werden wir besinnungslos: unbewusst handlungsgetriebene Zombies.
Unter dem Schlagwort Digitale Demenz wurde vor sieben Jahren bereits die Ansicht eines koreanischen Professors kolportiert, der einen Zusammenhang zwischen Erinnerungsschwund und technischen Gedächtnissystemen sah: Da sich die Menschen mehr auf die Informationssuche als auf das Erinnern verlassen, entwickle sich die Gehirnfunktion des Suchens, während sich die Gedächtniskapazität vermindere.
Man muss nichts mehr wissen
Und tatsächlich muss man ja auch nichts mehr wissen. Man muss nicht mal mehr wissen, wo man nachgucken muss: Denn man kann ja alles einfach googeln. Ich muss nicht mehr verstehen, warum etwas ist, wie es ist. Die Unmengen von Informationen scheint es viel wichtiger zu machen, dass etwas ist wie es ist.
Das ist auch dumm, denn: Wenn Menschen lernen, die Dinge nicht mehr nach Ursache und Sinn zu hinterfragen, wird ein Konsens erzeugt, der Untätigkeut wesentlich macht. Das zeigte sich, als in der westlichen Hemisphäre kaum jemand auf die Straße ging, als die NSA-Überwachung publik wurde. Dafür erhöhte sich aber der Absatz des Buches 1984 bei Amazon um 6000 Prozent.
Der verbreitete Vorwurf, dass sich die Bitkids per se für nichts mehr wirklich interessieren, ist also genau so perfide wie die Behauptung, soziale Kontakte hielten bei ihnen nur so lange wie der Handyakku.
Was man noch nicht genau sagen kann, ist, wie sich die digitale Evolution bei den Menschen auswirken wird, die heute noch Babies sind: vielleicht wie in dem mehr-millionenfach geklickten YouTube-Video, in dem ein Baby mit Windel in eine Zeitschrift greift und versucht, die Bilder mit dem Finger zur Seite zu wischen. Aber die Bilder bewegen sich nicht. Die Mutter schrieb dann stolz zu dem Video: Für meine Tochter wird ein Magazin immer nur ein defektes iPad sein.