Sozialer Zusammenhalt in Bremen-Huchting

"Hier klappt es mit den Nachbarn"

Die Nachtwanderer Huchting posieren für ein Gruppenfoto.
Die Nachtwanderer von Huchting posieren für ein Gruppenfoto © Almuth Knigge
Von Almuth Knigge · 22.05.2017
Bremen-Huchting ist eher Problemviertel als gutbürgerliche Gegend: Und trotzdem ist hier der soziale Zusammenhalt größer als anderswo. Warum, hat eine Bertelsmann-Studie ergründet.
In der Dimension "soziale Netze" schneidet Huchting mit seinen Ortsteilen Grolland, Mittelshuchting und Kirchhuchting und Sodenmatt überdurchschnittlich gut ab. Ebenso in der Dimension gesellschaftliche Teilhabe, Anerkennung sozialer Regeln, Solidarität und Hilfsbereitschaft.
Boehnke: "Also Bremen ist mit vorne, der Zusammenhalt ist in Bremen hoch ..."
Schlesselmann: "Huchting ist von den Menschen her sehr vielfältig und bunt, aber auch vom Wohnen her sehr vielfältig und bunt."
Neumann: "Es gibt hier im Stadtteil viele kleine Treffpunkte, viele Vereine, viele Träger, die aktiv sind und die auch was für die Nachbarschaft tun."
Stimmen aus Huchting. Huchting ist der Stadtteil ganz im Süden von Bremen – die Endhaltestelle der Straßenbahnlinie 1. Kurz vor dem Abgrund also, wie die Bremer gern über Niedersachsen lästern.
Auch aber nicht nur - deshalb gilt Huchting bei vielen als "Problemstadtteil", über den Außenstehende gerne mal die Nase rümpfen. Von hanseatischer Gediegenheit ist in Huchting auf den ersten Blick nicht viel zu sehen. 30.000 Menschen leben hier – fast jeder zweite davon mit Migrationshintergrund. Die Arbeitslosenquote liegt mit rund 16 Prozent weit über dem Bundesdurchschnitt und auch weit über dem Bremer Durchschnitt. Das heißt: Die Sozialindikatoren sind nicht besonders gut.
Umso mehr hat sich Ortsamtsleiter Christian Schlesselmann über das Ergebnis der Studie gefreut.
"… und hab für mich rekapituliert und das passt auch wirklich, also ich erlebe das auch tatsächlich selbst, wir haben einen guten Zusammenhalt, man kümmert sich, wir haben eine gute Gemeinschaft, und das kann ich über die verschiedensten Bereiche hinaus sagen."

Netzwerk von Freiwilligen und sozialen Trägern

Das muss er natürlich sagen. Er ist schließlich der Chef der Verwaltung – aber in den knapp 18 Monaten, die er im Amt ist, war er mehr als einmal dankbar für das enge Netzwerk an Freiwilligen und sozialen Trägern, die sich in seinem Stadtteil engagieren.
Schlesselmann: "Um das zu gestalten brauchen wir Geld, das ist ganz klar, aber ich würde das Geld alleine jetzt nicht in den Vordergrund rücken, wir brauchen Geld, wir brauchen aber auch die Menschen, aber auch Träger, gewisse Anker, die immer bleiben und da auch immer wieder erneuern, dass man auch neue Menschen wieder hinzugewinnt, wir haben ja auch noch nicht alle Menschen erreicht, immer wieder versuchen wir Leute einzubeziehen, teilhaben zu lassen, mitzumachen ..."
Das klappt auch deswegen, weil die Huchtinger ihrem Stadtteil treu bleiben. Bei der Wohndauer sind sie bremenweit führend.
Studie: Die Wohndauer im Ortsteil sowie Kultur und Werte sind entscheidend für die Identifikation. Das wundert nicht. Je länger man irgendwo wohnt, je vertrauter das Umfeld, desto größer die Identifikation.
Dheebike Patkunarasa und Lisa Ashkinasi sind schon ihr ganzes Leben in Huchting zuhause. Und die 20-Jährigen wollen auch nicht weg. Sie stehen für das, was in der Studie der Jacobs-Universität "Akzeptanz von Diversität" genannt wird. Auch da liegt Huchting mit seinen rund 80 Nationalitäten im Stadtteil ganz vorne.
"Ja, für uns ist da halt komisch, wenn wir nur eine Klasse mit Deutschen sehen als eine Klasse ..."
"Ja, das ist für uns echt komisch, genau."
"Als eine Klasse - bunt ist für uns gewöhnlicher als nicht bunt, sag ich mal."
"Das ist wirklich so ..."

Sozial: Das ist das Erste, was ihnen einfällt

Für sie ist Huchting vor allem eins:
"Sozial. Das wäre so das Erste, was einfällt. Wir machen hier ganz viele soziale Projekte, also nicht wir sondern generell, Huchting, es gibt so viele Sachen, wo Jugendliche mitmachen können, es gibt das Jugendfreizeitheim, es gibt Mädchentreff, es gibt Jugendbeirat, wir beide waren beim Jugendbeirat."
Der Jugendbeirat in Huchting war bundesweit das erste Gremium dieser Art. Gewählte Mädchen und Jungen bekommen hier vom Ortsbeirat pro Jahr ein Budget von 10.000 Euro, mit denen sie selbstständig über Projekte entscheiden und diese dann finanzieren können.
Auch Margret Rink engagiert sich. In ihrer Freizeit, sagt sie, belästigt sie alte Leute. Als Fischluzi besucht sie alte Menschen in den zahlreichen Begegnungsstätten und erzählt auf Plattdeutsch Geschichten.
"Das ist doch toll, wenn man sich da engagiert, man sieht nur lustige und fröhliche Gesichter, und dann geh ich auch fröhlich nach Hause, das macht mir einfach Spaß."
Margret Rink ist eine von vielen:
"Wenn diese Feste sind, auch hier das Bürger- und Sozialzentrum, was hier ist, da wird sich ja auch getroffen, und wenn die Vereine Veranstaltungen machen, dann geht man da hin ..."
Auch Ulla Ulland engagiert sich im Stadtteil – sie hat vor rund 10 Jahren die Nachtwanderer gegründet.
Es ist Samstagabend kurz vor Ladenschluss. Die Stimmung auf dem fast leeren Parkplatz zwischen Spielhalle, Einkaufszentrum und Busbahnhof: wenig anheimelnd. Im Häuschen der Bremer Straßenbahn AG brennt noch Licht. Es ist 21.30 Uhr. Nach und nach trudeln ein paar mittelalte bis ältere Herrschaften ein, Lothar, 72 Jahre, Gaby, 56 - und Sang-Hee ist mit 46 die Jüngste in der Runde.
"Möchte jemand von euch einen Kaffee – ich hab Kaffee gekocht. Nein?"

Auf die Jugend im Viertel aufpassen

Jeder von ihnen hat einen anderen Grund, sich die Nacht um die Ohren zu hauen und auf die Jugendlichen im Viertel aufzupassen. Das ist es, was die Nachtwanderer tun. Aber warum?
"Als damals in Paris die Autos brannten."
Das war im Herbst 2005.
"Da brannte hier in Huchting auch alles, was man sich vorstellen kann. Mülltonnen, 'ne Schule haben sie angesteckt, Autos und da haben wir uns dann zusammengetan und gesagt, wir müssen was im Stadtteil unternehmen."
"Und weil man Huchting zu dem Zeitpunkt wahnsinnig schlecht - in der Presse überall - Huchting, so ein zweites Paris, das war es nie."
Das ist das, was in der Studie "Identifikation mit dem Stadtteil" genannt wird.
"Ich finde, man kann sehr gut hier leben, man hat hier alles, man hat hier viel Grün, einen wunderbaren Badesee, es gibt viele Einkaufsmöglichkeiten, das Rolandcenter ist ein Highlight denke ich und was ich nicht schlecht finde, dass das hier so MultiKulti ist."
Verbunden mit der im Soziologen-Deutsch "Akzeptanz von Diversität" .
"Wenn man auch nicht immer zusammenhockt aber man kennt sich und man spricht miteinander und ich finde immer, das ist ne wichtige Angelegenheit."
Aber warum funktioniert das in einem Stadtteil, in dem viele Menschen eigentlich in erster Linie damit beschäftigt sind, ihr eigenes Leben in der Bahn zu halten?
"Ich sag jetzt mal, vielleicht dadurch, dass man sagt, es ist ein Problemstadtteil und deswegen beschäftigen sich auch mehrere damit. Und daher kommt diese Gruppenbildung, die sich da überall drum kümmern, und es wird auch gefördert. Wohnungsbau - Gewoba - ist da immer ein sehr guter Partner und insofern bringen die wiederum mehr Menschen zusammen."
Studie: Die Stärkung von Diversität und einem lebendigen Nachbarschaftsleben vor Ort ist, unabhängig von ortsteilspezifischen Unterschieden, ein entscheidender Schritt zu dem wünschenswerten Wohlfahrtsziel Zusammenhalt.
Lebendiges Nachbarschaftsleben – wie kann das gelingen? Wie wohnt man in Huchting?
Die einzige Konstante in der Bebauung des Stadtteils ist die Uneinheitlichkeit. Höfe aus dörflicher Vergangenheit grenzen an Hochbauten, Einfamilienhäuser auf riesigen Grundstücken an winzige Siedlungshäuschen. Besuch in der Kötnerweide – hier stehen die Mehrfamilienhäuser mit sozial-gefördertem Wohnraum.

Baulärm vermischt sich mit Vogelgezwitscher

Abseits der Hauptstraße ist es ruhig. Gedämpfter Baulärm vermischt sich mit Vogelgezwitscher. Die Anlagen um die Mehrfamilienhäuser sind gepflegt. Aber es ist Mai, da grünt es und die Sonne taucht alles in ein hübscheres Licht.
"Aber das sieht auch im November gut aus ..."
Das Argument lässt Hans Herrmann Schrader nicht gelten. Er ist bei der Gewoba verantwortlich für den Stadtteil. Die Gewoba ist die "Gemeinnützige Wohnungsbaugemeinschaft der Freien Gewerkschaften für Bremen und Umgegend". Es gibt sie seit 1924 und ihr Auftrag war schon damals klar definiert: Sie sollte etwas gegen den damals eklatanten Wohnungsmangel in Bremen unternehmen, und zwar mit dem Bau von Mietwohnungen für Angestellte und Arbeiter. Auch in Huchting ist die Gewoba mit knapp 5000 Mietwohnungen der größte Anbieter auf dem Wohnungsmarkt.
"Das ist auch eine Erfahrung, die über die Jahre hier gewachsen ist, wenn die Gebäude in Schuss sind, wenn die Außenanlagen in Schuss sind, wenn das sauber und ordentlich ist ... dann sind die Leute auch zufrieden, sie gucken selber mehr in ihre Eingänge und auch außerhalb ihrer Eingänge, und kommunizieren mehr mit ihren Nachbarn, dadurch entstehen dann neue Nachbarschaften, dann ist das übergreifend - wir legen Plätze an, wir machen Mieterfeste ... viele kleine Mosaiksteine und wenn die Leute sich wohlfühlen, dann wissen wir, wir sind auf dem richtigen Weg."
Hans Hermann Schrader ist sichtlich stolz auf die Entwicklung im Viertel und auf das Ergebnis der Studie. Schließlich kam raus, dass sein Unternehmen maßgeblich mit an dem guten Zusammenhalt im Viertel beteiligt ist.
'"Nur mal ein Beispiel, wir haben jetzt diese Gebäude. Neubauten sind das, gehen wir mal hin ..."
Er zeigt auf zwei schlanke, niedrige Wohntürme mit einer Art Brücke verbunden. Architektur.
"Naja, wenn man näher kommt sieht man, es ist auch nur ein Haus ..."
"Aber es ist schon was Besonderes, entstanden ist das aus einem Architekturwettbewerb und wir nennen diese Gebäude Tarzan und Jane."
Bei Tarzan und Jane gibt es in den unteren Stockwerken Wohnungen für Senioren und alleinerziehende Mütter, in den oberen finden Familien mit mehreren Kindern ein Zuhause. Die Dachterrasse ist für alle – im Erdgeschoss ist das Mütterzentrum eingezogen.

Auch Türanhänger sorgen für Kontakt

Die Lebensumstände der Menschen ändern sich, erklärt Schrader. Die übliche Dreizimmerwohnung kann da nicht die Standard-Antwort sein.
"Das sind in so einem kleinen Quartier kleine Bausteine, die dann auch den Zusammenhalt dann auch fördern."
Ein anderer kleiner Puzzlestein sind zum Beispiel die Türanhänger, die jeder neue Mieter bei seinem Einzug bekommt.
"… zwei, drei Türanhänger, je nachdem, und dann kann ich das, wenn ich neu bin in der Wohnung, hänge ich da bei meinen Nachbarn hin und dann können die mal Kontakt mit mir aufnehmen, oder ich klingel mal, schreib drauf, ich komme morgen mal vorbei, wenn Sie da sind oder klingeln Sie bitte bei mir, und so lernt man sich kennen."
Und dann klappt´s eben auch mit dem Nachbarn – auch - oder gerade in sogenannten sozialen Brennpunkten, so liest der verantwortliche Wissenschaftler für die Studie, Professor Klaus Böhnke, die Ergebnisse.
"Was wir in Bremen finden ist, dass das reine Einkommen, wo man immer sagt, je reicher, desto besser ist auch der Zusammenhalt, das finden wir in Bremen nur ganz gering."
Und was lernen wir daraus?
"Also es ist so, ja, wenn sie etwas mehr zur Verfügung haben, ist auch der Zusammenhalt höher, aber nein, andere Dinge, nämlich miteinander etwas tun ..."
Studie: Weder hohe ökonomische Prosperität noch hervorragende Infrastruktur oder eine bestimmte Bebauungsstruktur und ebensowenig eine bestimmte Zusammensetzung der Bevölkerung eignen sich durchgehend zur Vorhersage eines hohen gesellschaftlichen Zusammenhalts. Mentalitäten sind wichtiger als strukturelle Gegebenheiten.
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