Soziale Gehirne

05.08.2013
Wir sind nicht allein, nicht mal im eigenen Kopf. Spiegelneuronen verbinden uns mit den Handlungen und Gefühlen anderer Menschen. Der Hirnforscher Christian Keysers erklärt in seinem Buch "Unser empathisches Gehirn", wie das funktioniert, und inwiefern es unser Menschenbild auf den Kopf stellt.
Unser Gehirn macht uns zu sozialen Wesen. Auf diese Erkenntnis sind italienische Neurowissenschaftler in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts eher durch Zufall gestoßen. Im Gehirn von Rhesusaffen untersuchten die Forscher Nervenzellen, die körperliche Bewegungen steuern. Dabei entdeckten sie, dass bestimmte Zellen nicht nur aktiv waren, wenn ein Affe nach einem Leckerbissen griff, sondern auch, wenn das Tier lediglich beobachtete, wie einer der Forscher es tat.

Weitere Tests ergaben, dass auch Menschen so genannte "Spiegelneuronen" besitzen. Diese Nervenzellen bewirken, dass wir die Handlungen anderer beinahe so erleben, als würden wir sie selbst ausführen. Die Aktionen, die wir beobachten, regen dieselben "Schaltkreise" an, die unsere eigenen Bewegungen begleiten. So kommt es, dass ein Fußballfan unwillkürlich zuckt, wenn er seinem Lieblingsstürmer zusieht, oder dass ein Tanzschüler sich die Schritte von seinem Lehrer abschauen kann, ohne jede einzelne Bewegung genau analysieren zu müssen.

Der Biologe und Psychologe Christian Keysers hat vier Jahre lang im Labor des Spiegelneuronen-Entdeckers Giacomo Rizzolatti in Parma geforscht, bevor er in Groningen 2004 sein eigenes Institut, das "Social Brain Lab", eröffnete. Anhand zahlreicher Beispiele zeigt Keysers, dass das "Spiegelsystem" des Gehirns uns nicht nur Handlungen anderer Menschen nahe bringt, sondern auch Emotionen, Tasteindrücke oder Schmerzempfindungen. Der Autor erklärt, weshalb wir intuitiv ein echtes von einem aufgesetzten Lächeln unterscheiden können, er skizziert, was Spiegelneuronen zur Evolution der menschlichen Sprache beigetragen haben könnten und zur Ausbildung einer "natürlichen Ethik".

Als die ersten Studien über Spiegelneuronen die Runde machten, haben sie lebhafte Diskussionen ausgelöst. Psychologen interessierten sich für die biologische Grundlage kooperativen Verhaltens. Der britische Regisseur Peter Brook sah bestätigt, was das Theater schon immer über Einfühlung wusste. Der amerikanische Publizist Jeremy Rifkin entwarf die Utopie einer "empathischen Zivilisation" und schrieb, es sei an der Zeit, "die lange gültige Vorstellung von der aggressiven, materialistischen (…) und egoistischen Natur des Menschen zu überdenken."

Auch Christian Keysers verbindet mit seinem Konzept des "empathischen Gehirns" ein Menschenbild, das auf Kooperation statt Konkurrenz setzt. Auch er sucht in unserer Biologie die Basis für ein besseres Zusammenleben. Keysers unterbreitet Vorschläge für eine anschauliche Pädagogik ("Eine Handlung ist tausend Worte wert.") und empfiehlt, die Neurowissenschaft könne einschätzen, welche moralischen Gesetze "wirksam sind, weil sie sich an natürlichen Tendenzen orientieren, und welche es nicht sind."

Damit berührt sein durchweg anschaulich und persönlich geschriebenes Buch freilich einen heiklen Punkt. So wertvoll die Einsicht in die körperlichen Grundlagen unseres Denkens und Empfindens ist, so gefährlich nah liegt der Schritt, das Naturgegebene für moralisch geboten zu erklären. Keysers weiß das und hat entsprechende Warnschilder aufgestellt. Aber wer sich der philosophischen Feinarbeit stellen will, die hier geboten ist, wird sich mit einem anderen Scout durch das Gelände schlagen müssen, das Christian Keysers mit souveräner Kenntnis und mitreißender Erzählgabe ausgemessen hat.


Besprochen von Frank Kaspar

Christian Keysers: Unser empathisches Gehirn. Warum wir verstehen, was andere fühlen
Aus dem Englischen von Hainer Kober
C. Bertelsmann Verlag, München 2013
320 Seiten, 22,99 Euro
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