Erkenntnisgewinn in der Wissenschaft

Was gegen Fanatiker und Pseudoexperten hilft

Illustration einer Frau, die auf ein Buch schaut. Vor ihr ein rotes Fragezeichen.
Die Wissenschaft reflektiert ihr Nicht-Wissen, sagt Alexander Estis. © imago / Shotshop
Überlegungen von Alexander Estis · 25.10.2022
Im Gegensatz zu Verschwörungsmythen bietet die Wissenschaft keine einfachen Antworten, sondern sie begibt sich auf einen Prozess der Wahrheitsfindung, sagt der Schriftsteller Alexander Estis. Das zu akzeptieren, nehme die Angst vor dem Ungewissen.
Gewiss erwarten Sie nach dem Lesen dieses Beitrags, mehr zu wissen als vorher. Es würde Sie überraschen und enttäuschen, wenn Sie kein neues Wissen gewonnen hätten oder am Ende sogar weniger wüssten als zu Beginn.
Denn das Nichtwissen hat einen miserablen Ruf. Kein Wunder, konfrontieren uns doch die größten Krisen unserer Zeit – ob Pandemie, Klimawandel oder Krieg – auf ihre je eigene Weise mit dem schier ungeheuren Ausmaß unseres Nichtwissens. Schwer auszuhalten, wenn niemand weiß, auf welchem Weg eine tödliche Seuche übertragen wird, welche Auswirkung bestimmte Parameter auf klimatische Veränderungen haben oder was für Szenarien sich im Gehirn eines soziopathischen Diktators entspinnen.
Solcher Wissensmangel macht uns orientierungslos. Und wenn die Wissenschaft nicht oder nicht schnell genug Erklärungen und Prognosen liefert, wenn diese zu komplex, zu ambivalent, zu unsicher scheinen, dann verlegen sich viele von uns lieber auf andere Quellen, auf simple Pauschalisierungen, auf Halbwissen und Scheinwahrheiten.

Verschwörungsmythen, Esoterik, Wunderglaube

Unsere Weltsicht ist, so heißt es, von naturwissenschaftlichem Denken geprägt. Und doch greifen Menschen unter dem Motto „Die Wissenschaft weiß auch nicht alles“ oder „Zwei Experten, drei Meinungen“ immer öfter in die Trickkisten von Verschwörungstheorien, esoterischen Lehren oder religiösem Wunderglauben.
Denn tatsächlich hat die Wissenschaft im Vergleich mit den früher vorherrschenden „großen Erzählungen“ in vielen lebensweltlichen Zusammenhängen eine geringere Erklärungsmacht. Die Religion etwa gibt auf fast alle existenziellen Fragen eine klare Antwort – oder schanzt sie zumindest mystischer, nicht verbalisierbarer Erfahrung zu.

Fehlbarkeit wissenschaftlicher Annahmen

Die Wissenschaft hingegen macht explizit, was sie nicht weiß – zumindest, wenn es gute Wissenschaft ist. Anders als dogmatische Ideologien bietet sie außerdem keine einfachen und letztgültigen Wahrheiten, sondern ihr Wahrheitsverständnis ist komplex und prozessual: Was im Expertendiskurs nach und nach als Tatsache Anerkennung findet, kann später wieder verworfen werden.
Diese Fehlbarkeit wissenschaftlicher Annahmen und solches Eingeständnis der eigenen Wissensgrenzen dürfen jedoch nicht zu einer fundamentalen Wissenschaftsskepsis in Politik und Alltag verführen. Denn Nichtwissen, Unsicherheit und Dissens sind integrale und wohlkalkulierte Begleiter jedes wissenschaftlichen Fortschritts.
Nichtwissen ist nicht bloß dessen Ansporn, sondern als Desiderat strukturiert es auch den Forschungsprozess. Mehr noch: Mit der Zunahme des Wissens nimmt paradoxerweise auch das Unwissen zu, weil sich an jede beantwortete Frage unmittelbar viele neue, zuvor nicht formulierbare Fragen anschließen.

Die Reflexion des Unwissens

Das alles weiß die Wissenschaft. Sie reflektiert ihr Unwissen und systematisiert sogar seine unterschiedlichen Erscheinungsformen. So gibt es Dinge, die wir nicht wissen, aber wissen können, Dinge, die wir nicht wissen und auch nicht wissen können, oder auch Dinge, von denen wir nicht wissen, ob wir sie wissen können oder nicht. Vor allem aber gibt es Dinge, von denen wir nicht einmal wissen, dass wir von ihnen wissen könnten.
Ja, ohne Wissen sind wir orientierungslos. Aber nehmen wir an, Sie fragen jemanden nach dem Weg: Ist es Ihnen lieber, wenn Ihnen jemand die Richtung weist, ohne diese zu kennen, und dabei völlig überzeugt scheint? Oder ist Ihnen weitaus mehr geholen, wenn die ehrliche Antwort lautet "Ich weiß es nicht"?

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Wir brauchen eine Kultur, die nicht nur Wissen, sondern auch Nichtwissen anerkennt, würdigt und sogar schützt, anstatt es zu dämonisieren. Nur so nehmen wir den Patentlösern den Wind aus den Segeln, den Pseudoexperten und Esoterikern, den Obskuranten und Mystagogen, den Dogmatikern und Fanatikern aller Couleur, die unsere Angst vor dem Ungewissen instrumentalisieren. Und nur so bleiben die mit wachsendem Nichtwissen verbundenen Risiken offenbar. Wir müssen souverän werden im Nichtwissen.
Ich hoffe, Sie wissen jetzt Bescheid.

Alexander Estis ist Schriftsteller und Kolumnist. 1986 in Moskau geboren, studierte er in Hamburg deutsche und lateinische Philologie, anschließend lehrte er an verschiedenen Universitäten in Deutschland sowie in der Schweiz, wo er seit 2016 als freier Autor lebt. Er schreibt für u.a. die FAZ, die SZ, die NZZ und die ZEIT. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Fluchten“ bei der Edition Mosaik.

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