Solidarität und Impfpflicht

Nicht alles, was die Mehrheit will, ist auch richtig

10:00 Minuten
Auf einer Demonstration wird ein Schild präsentiert, auf dem steht: "Solidarität = Impfen statt Schimpfen".
Ein Bärendienst für die Impfdebatte: Durch die Diskussion um die Coronaimpfung sei der Widerstand gegen das Impfen gewachsen, findet der Jurist Steffen Augsberg. © Imago / Hanno Bode
Steffen Augsberg im Gespräch mit Nicole Dittmer · 18.08.2022
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Die Pflicht zur Masernimpfung ist verfassungskonform. Doch daraus lässt sich nicht das Gleiche für Corona ableiten, so der Jurist Steffen Augsberg. Das Mitglied des Ethikrats warnt zudem vor „auseinanderstrebenden Strömungen in der Gesellschaft“.
Die Masernimpfpflicht verstößt nicht gegen das Grundgesetz. Das hat das Bundesverfassungsgericht am Donnerstag in Karlsruhe entschieden. Eingeführt wurde diese im Frühjahr 2020 für Kindergärten, Schulen sowie Flüchtlingsunterkünfte, Arztpraxen und Krankenhäuser.

Großzügig gegenüber Gesetzgeber

Für Steffen Augsberg, Professor für öffentliches Recht an der Universität Gießen und Mitglied des Ethikrats, setzten die Richter des Verfassungsgerichtshofs mit ihrem Urteil ihre „sehr großzügige Linie gegenüber dem Gesetzgeber fort“. Nun sei es nur noch schwer vorstellbar, dass im Gesundheitsbereich etwas beschlossen werde, was von Karlsruhe als nicht zulässig zurückgewiesen werde.
Andererseits betont der Jurist: Eine „logische Linie“ etwa zu einer Impfpflicht gegen Covid-19 könne nicht gezogen werden. Denn die Unterschiede zwischen der Impfung gegen Corona und den Masern seien „gewichtig“. Schließlich gebe es mit dem Vakzin gegen Masern jahrzehntelange Erfahrung, die hätten weniger schwere Nebenwirkungen und erzielten eine lebenslange Immunität. Zudem schütze sie bei einer doppelten Impfung auch vor Ansteckung.

Individualismus vs. Kollektivierungstendenzen

Dadurch, dass bei Corona die Impfung „pauschal und zum Teil ziemlich argumentfrei eingefordert worden ist“, gebe es nun aber einen Widerstand gegen Impfung, der über Covid-19 hinausreiche. Damit habe man „der gesamten Impfdebatte einen Bärendienst erwiesen“, findet der Jurist. Denn bei den Masern gebe es hohe Impfquoten; die Gegnerschaft dazu halte sich in Grenzen von „verstreuten Clustern“.
Bezogen auf die Diskussion um das Impfen als Akt der Solidarität verweist Augsberg einerseits darauf, dass „wir verfassungsrechtlich stark individual bezogen ausgerichtet sind“. Darin spiegele sich ein liberales Verständnis wider, das auf die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts reagiere. Anderseits habe sich in der Coronazeit gezeigt, dass „gewisse Kollektivierungstendenzen wieder Nahrung erhalten haben“.

Stempel der Solidarität

Augsberg sieht deswegen zwei auseinanderstrebende Strömungen, die auch durch Entwicklungen in der Politik unterstützt würden. So nennt der Jurist etwa das im Juni vorgestellte Selbstbestimmungsgesetz, durch das die geschlechtliche Zugehörigkeit durch einen „bloßen Akt des Wollens festlegen können“. Das sei ein „Hyperindividualismus, wie er im Buche steht“ und kontrastiere die Forderung, „dass sich die Menschen an das anpassen sollen, was die Gesellschaft von ihnen verlangt“.

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Viel werde mit dem Stempel „Solidarität“ oder „aus Solidarität“ versehen, beobachtet der Jurist. „Da muss man aufpassen.“ Zwar sei es gesellschaftlich nachvollziehbar, doch rät Augsberg, „nicht alles, was der Mehrheit nicht wichtig erscheint, sofort mit dem Verbotsstempel zu versehen oder die Einzelnen dazu zu zwingen, sich so zu verhalten, wie es die Meisten für richtig halten“.
(rzr)
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