Eigenverantwortung

Impfen ist keine rein private Kosten-Nutzen-Rechnung

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Illustration eines gelben Hundes auf blauem Grund, der sich in den eigenen Schwanz beißt.
Verantwortung beginnt gerade dort, wo Leute aufhören, nur an sich zu denken, meint der Philosoph David Lauer. © Getty Images / MaryValery
Ein Kommentar von David Lauer · 10.04.2022
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Nach dem Scheitern der Corona-Impfpflicht und dem Wegfall der meisten Beschränkungen appelliert die Politik an die Eigenverantwortung. Damit ist niemandem geholfen, weder uns als Einzelpersonen, noch uns als Gesellschaft, meint David Lauer.
Das Wort „Verantwortung“ bezeichnet eine soziale Beziehung. Dass ich für die beabsichtigten oder unbeabsichtigten Folgen meines Tuns verantwortlich bin, heißt im buchstäblichen Sinne, dass ich mich zu ver-antworten habe – und zwar vor anderen, die mich zur Rede stellen und Antworten verlangen dürfen, Antworten auf Fragen wie: Warum hast du das getan? Und: Wirst du einstehen für die Kosten und Konsequenzen, die dein Handeln für uns andere verursacht hat?
Verantwortlich handeln wir dort, wo wir anerkennen, dass wir einander aufgrund der Folgen unseres Handelns etwas schulden, unverantwortlich dort, wo wir dies ignorieren.

Den Schaden selbst tragen

Mit dem Begriff der „Eigenverantwortung“, den nun sogar Karl Lauterbach bemüht, um den Wegfall der meisten Corona-Maßnahmen zu begründen, hat es allerdings eine ganz andere Bewandtnis. Wie Sabine Döring und Thomas Beschorner jüngst in der ZEIT gezeigt haben, stammt das Wort aus dem Programm des ökonomischen Liberalismus und bezieht sich auf solche Handlungen, deren negative Konsequenzen nur die Handelnde selbst betreffen. Für solche Handlungen ist sie deshalb anderen gegenüber gerade nicht verantwortlich.
Und auch umgekehrt dürfen die anderen ihrerseits jede Verantwortung der Handelnden gegenüber ablehnen, falls ihr etwas passiert. „Auf uns darfst du nicht zählen“, dürfen sie sagen, „du hast auf eigene Verantwortung gehandelt.“ Der Bereich der Eigenverantwortung ist also der Bereich, in dem jeder auf eigene Rechnung agiert.

Gesundheitsminister sabotiert eigene Ziele

Diese Überlegung zeigt nun, dass der Bundesgesundheitsminister seine eigene Absicht durchkreuzt, wenn er ausgerechnet an die Eigenverantwortung appelliert, damit Menschen freiwillig weiter Maske tragen und sich impfen lassen. Er beschränkt durch diese Rhetorik die relevante Perspektive auf eine private Kosten-Nutzen-Rechnung des Einzelnen.
Damit aber sabotiert er unabsichtlich sein politisches Anliegen, weil gerade aus dem isolierten Blickwinkel des Einzelnen nicht mehr verstanden werden kann, wieso man sich selbst Einschränkungen auferlegen sollte. Die konkreten persönlichen Kosten erscheinen immer höher als der kaum bezifferbare, rein hypothetisch bleibende persönliche Gewinn.
David Lauer im Porträt.
Die Corona-Krise lässt sich nur gemeinsam, nicht aber individuell überwinden. Das Konzept der Eigenverantwortung verschleiert das, argumentiert der Philosoph David Lauer. © Privat
Es ist daher unmöglich, die Vernünftigkeit des Masketragens oder einer Impfkampagne durch das individualistische Prinzip der Eigenverantwortung zu begründen. Das beweist aber nur die Beschränktheit der individualistischen Perspektive. Diese kann nämlich nicht die Rationalität eines kollektiven Handelns erfassen, dessen Nutzen sich dann (aber auch nur dann) einstellt, wenn alle oder zumindest die allermeisten Mitglieder sich beteiligen.

Die Scheuklappen des ökonomischen Liberalismus

Der Gewinn, den mein Beitrag mir einbringt, besteht dann nicht in den Folgen meines Beitrags für mich, sondern in den Folgen des identischen Beitrags aller anderen für mich. Erst wenn ich die kollektive Dimension mitdenke, zeigt sich, wieso mein Beitrag einen Gewinn erzielt.
Andere Politikfelder funktionieren übrigens nach genau demselben Prinzip – der Klimaschutz etwa: Nur wenn alle einzelnen weniger Ressourcen verbrauchen und Emissionen verursachen, ist für alle zusammen am Ende noch genügend lebenswerte Welt da. Daher sollte sich politische Kommunikation hier wie dort nicht an die Rhetorik des ultraliberalen Individualismus anbiedern, sondern schlicht sagen, was gefordert ist: Verantwortung übernehmen, füreinander, also verantwortlich handeln. Nicht „eigenverantwortlich“.

David Lauer ist Philosoph und lehrt an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie des Geistes und der Erkenntnistheorie. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

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