Silia Wiebe über ihr Buch "Unsere Mütter"

"Die Mutter ist im Grunde unsere erste große Liebe"

10:25 Minuten
Illustration: Frau umarmt alte Mutter
Sie habe um die Anerkennung ihrer Mutter gekämpft, meint Silvia Wiebe. © imago / Veronica Grech
Silia Wiebe im Gespräch mit Joachim Scholl · 26.04.2019
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Dankbarkeit, Verletzungen, Liebe: Silia Wiebe hat ein Buch über das Verhältnis von Töchtern zu ihren Müttern geschrieben. Das Bedürfnis der Tochter, auch als Erwachsene von der Mutter gesehen und wertgeschätzt zu werden, sei riesig, sagt Wiebe.
Joachim Scholl: Von Töchtern und Müttern wollen wir heute hören, wie sie voneinander erzählen. Jetzt freuen wir uns hier in der "Lesart", dass Silia Wiebe im Studio ist, zugeschaltet aus Hamburg, wo sie als freie Journalistin und Autorin lebt. Für ihr jüngstes Buch hat sie eine ganze Reihe von Frauen getroffen, begleitet und ihre Geschichten geteilt. Geschichten nämlich mit und über die jeweiligen Mütter. Willkommen im Deutschlandfunk Kultur, Frau Wiebe!
Silia Wiebe: Ja, hallo, ich freue mich total!
Scholl: "Unsere Mütter. Wie Töchter sie lieben und mit ihnen kämpfen" - das ist der Titel Ihres Buches, bei dem man natürlich sofort denkt, na, wie war es denn bei der Autorin selbst? Mehr Liebe, mehr Kampf, beides gut verteilt?
Wiebe: Oh ja, beides gab es in den letzten Jahren. Liebe sowieso immer, aber ich habe auch viel gekämpft, eigentlich vor allem um die Anerkennung meiner Mutter. Das hätte ich gar nicht tun müssen, weil die Anerkennung war sicher da, aber wie es ja vielen anderen Töchtern auch geht, bei mir kam es manchmal nicht so richtig an. Ich habe manchmal ein bisschen gehadert und gezweifelt und gedacht, ich bin von den drei Töchtern das Sandwichkind, so ein bisschen das schwierige Kind in der Mitte.
Scholl: Sie waren drei Töchter.
Wiebe: Genau.

"Die Mutter ist die Identifikationsfigur für die Tochter"

Scholl: Ich hatte zwei Schwestern, und ich weiß natürlich als Sohn, dass man von seiner Mutter ein Leben lang nie loskommt. Was macht aber das Verhältnis von Müttern und Töchtern so speziell? Also Anerkennung, dieses eine Motiv haben Sie schon genannt. Haben Sie das eigentlich bei Ihren Gesprächen mit Ihren Frauen auch schon so als Durchgängiges festgestellt?
Wiebe: Ja, auf jeden Fall. Also dieses Bedürfnis der Tochter, auch als Erwachsene von der Mutter gesehen zu werden, wertgeschätzt zu werden, das ist einfach riesig. Die Mutter ist die Identifikationsfigur für die Tochter, und das bleibt sie auch eigentlich ziemlich lange. Es gibt sogar Studien, die nachgewiesen haben, dass die Entwicklung des Selbstwertgefühls der Tochter speziell davon abhängig ist, wie die Mutter in den ersten Lebensjahren ihr gegenübergetreten ist.
Scholl: Sie haben zwölf Töchter getroffen, Frau Wiebe, gesprochen, haben sich deren Geschichten erzählen lassen. Warum eigentlich, was wollten Sie denn wissen?
Wiebe: Also ich habe im Freundeskreis gemerkt, dass viele Frauen auch mit 30, 40, 50 noch eine sehr komplizierte Mutterbeziehung haben, und bei mir war es auch manchmal so ein Wechselbad der Gefühle, und mich hat einfach interessiert, wie ist das eigentlich bei anderen, wie gelingt, wie glückt eine gute Beziehung zu eigentlich ja der wichtigen Mutter. Die ist ja im Grunde unsere erste große Liebe, vielleicht sogar die wichtigste Beziehung überhaupt, und da wollte ich einfach mal nachfühlen und schauen, wie geht es da anderen Töchtern überhaupt, wie gehen die mit Enttäuschung um, mit Schwierigkeiten, mit Kritik von der Mutter, mit Übergriffigkeit.
Scholl: Ihr Spektrum dieser Töchterbiografien, das ist enorm, und ich habe mich sofort gefragt, wo hat sie denn die aufgetrieben. Wo haben Sie diese Frauen, diese Töchter gefunden?
Wiebe: Ja, das ist meine Spezialität. Da habe ich eine gute Spürnase, glaube ich. Ich habe ganz verschieden gesucht, also teilweise über private Kontakte, dann bin ich über Facebook-Gruppen gegangen und habe geschaut. Dann habe ich im Internet recherchiert. Also das war sehr unterschiedlich.

"Sie hat sich dann irgendwann auf die Suche begeben"

Scholl: Entfalten Sie uns mal eine dieser Geschichten, Silvia Wiebe, zum Beispiel von dieser Tochter, die als Kleinkind von ihrer Mutter getrennt wurde, und dieser Schmerz darüber, der kam dann viel später wieder, als sie nämlich als Erwachsene von ihrem Ehemann verlassen wurde. Was ist das für eine Geschichte gewesen?
Wiebe: Ja, die hat mich sehr beeindruckt, die Sigrid. Die ist mit Ende 30, wie Sie gesagt haben, verlassen worden und hat sich dann aber gewundert, dass dieser Schmerz über dieses Verlassenwerden so unglaublich war, dass sie wirklich über Wochen kaum noch … ja, das Gefühl hatte, sie kann kaum noch atmen. Also die ganze Welt blieb stehen, und sie kam dann irgendwann dahinter, dass dieser unglaubliche Schmerz, dieses Gefühl, sie stürzt in einen schwarzen Tunnel und knallt unten auf, dass das mehr ist als nur der Schmerz des Verlassenwerdens vom Partner, sondern dass da noch was anderes dahinterstecken muss.
Sie hat sich dann irgendwann auf die Suche begeben und sich mit ihrer Mutterbeziehung beschäftigt und festgestellt, dass ihre Mutter als junge Frau im Krieg schwer traumatisiert wurde und sich diese Traumatisierung im Grunde auf die Tochter übertragen hat.
Scholl: Hat sie das selbst rausgefunden, oder hat sie sich da in Behandlung begeben?
Wiebe: Nein, sie hat die Behandlung bewusst gescheut und hat gesagt, nein, das traue ich mir irgendwie nicht zu, da beim Therapeuten zu sitzen, nachher schaffe ich meinen Beruf nicht mehr. Sie war dann alleinerziehend, musste für das Haus aufkommen und so weiter und hat gesagt, ich nehme mir jetzt einfach die Zeit, ich mache das ohne Therapie, ich gehe den Weg über meinen Vater.
Sie hat dann angefangen, mit dem Vater sehr viel über die Mutter zu sprechen, die Mutter wurde gerade so langsam dement und hat im Grunde über dieses Verständnis der Kindheit der Mutter, indem sie immer wieder gefragt hat und verstanden hat, warum war die Mutter eigentlich wie sie war, und was hat das mit mir gemacht. So hat sie dann ihre eigene Geschichte aufgearbeitet.

"Geh doch noch mal los und frag deine Mutter"

Scholl: Das ist verblüffend bei diesen Biografien, Frau Wiebe, wenn man sie liest, wie reflektiert diese Frauen alle sind, also wie intensiv sie sich wirklich mit diesem Verhältnis auseinandergesetzt haben. Man denkt bei manchen, die haben eine psychoanalytische Ausbildung, so wie sie da praktisch über dieses Verhältnis und über diese Verwerfungen in solchen Verhältnissen auch reflektieren. Hat Sie das auch verblüfft?
Wiebe: Ich habe das nicht so empfunden. Es war eigentlich bei manchen der erwachsenen Töchter auch so, dass durch die Gespräche, die wir miteinander geführt haben, also auch durch die Interviews, eine Reflexion in Gang kam. Also beispielsweise habe ich … bei einer Tochter fand ich die Mutter sehr kritisch dargestellt, und manches hat man auch nicht so richtig verstanden, warum ärgert sich die Tochter denn nun ständig über die Mutter, das ist doch alles gar nicht so schlimm.
Dann habe ich zu der Tochter gesagt, Mensch, geh doch noch mal los und frag deine Mutter doch noch mal, warum sie die und die Eigenschaft hat, warum kommt sie mit Veränderungen nicht klar, warum ist sie immer so ein bisschen jammerig. Das hat die Tochter dann auch gemacht, und als mein Buch fertig war, schrieb mir die Tochter, du, meine Mutter ist völlig überraschend gestorben mit Anfang 70, und ich bin so froh, dass ich bei diesem Buchprojekt mitgemacht habe, denn so konnte ich ihr die Fragen alle noch stellen.
Scholl: Das heißt, das Buch hat eigentlich, wenn man so will, auch therapeutisch gewirkt bei den Frauen. Wie war das denn bei Ihnen selbst? Ich meine, ein Jahr lang haben Sie die verschiedensten Aspekte von Mütter-Töchter-Beziehungen erfahren und beschrieben und wie viele Traumatisierungen, also wie viele Aspekte da noch zur Sprache kamen. Was hat das mit Ihnen selbst gemacht, wie haben Sie das erlebt? Auch so als eine Art von Therapie?
Wiebe: Total! Also, es war tatsächlich überhaupt nicht so beabsichtigt, aber dieses Thema ist bei mir viel tiefer gegangen als ich es erwartet hatte. Ich habe unglaublich viel gelernt von den Frauen. Also auch zum Beispiel, wie streng ich teilweise selber mit mir und mit meiner Mutter war. Also eine Tochter in meinem Buch beispielsweise findet mit 64 ihre leibliche Mutter. Sie wurde als Kind adoptiert, und sie wirft ihr das aber nie vor.
Die treffen sich, und ich habe die dann gefragt im Gespräch, ja, aber haben Sie ihr denn nicht mal … haben Sie nicht den Vorwurf gehabt und gesagt, Mensch, wie konntest du mich weggeben, den Zwillingsbruder dagegen hat sie behalten, und dann sagte die Tochter, wer bin ich, dass ich über meine Mutter urteile. Da dachte ich, oh Mensch, ich habe schon wegen ganz anderen Dingen über meine Mutter geurteilt. Also für mich war das Buch ein riesiger Lernprozess, und ich bin da schon ein bisschen demütiger geworden.

"Ich habe das Buch meiner Mutter gewidmet"

Scholl: Sie selbst haben ja einen Sohn, Frau Wiebe, wie wir gehört haben. Aber sicherlich haben Sie auch mit Freundinnen gesprochen, die wie Sie selber Töchter haben. Wie ist das eigentlich, wenn die Rolle sich plötzlich umkehrt, also die ehemalige Tochter zur Mutter eines Mädchens wird?
Wiebe: Ich glaube, das ist ganz davon abhängig, wie sehr man – Sie haben es vorhin schon angesprochen – die eigene Kindheit reflektiert und die eigene Mutterrolle, und wenn man sich da wirklich bewusst war, mit welchen Eigenheiten der Mutter man selber nicht klarkam, dann kann man vielleicht ganz anders, wenn man selber Mutter ist, wiederum mit der Tochter umgehen.
Scholl: Sie haben das Buch Ihrer eigenen Mutter gewidmet, und Sie haben jetzt schon gesagt, Silvia Wiebe, also die Arbeit am Buch hat die Beziehung zu Ihrer Mutter verändert. Haben Sie mit ihr darüber gesprochen?
Wiebe: Ja, meine Mutter – ich habe Ihr das Buch ja gewidmet –, sie rief mich an und weinte am Telefon. Da war ich völlig überrascht, weil meine Mutter ist eher so ein pragmatischer Typ und jetzt niemand, den ich oft habe weinen sehen. Sie hat sich so gefreut, und sie war so glücklich darüber, und da ist mir eigentlich erst bewusst geworden, dass ich meiner Mutter auch schon einiges zugemutet habe. Das ist auch für eine Mutter gar nicht einfach, wenn die Tochter hadert und das auch ausspricht, aber meine Mutter ist wirklich eine unglaublich tolle Frau, und … Oh Gott, da bricht mir schon die Stimme weg!
Scholl: Es ist natürlich kein Wunder, dass Sie eine ziemlich intensive Beziehung zu den Protagonistinnen Ihres Buches, also den Töchtern und auch vielleicht die Mütter, die Sie darüber kennengelernt haben, aufgebaut haben. Am Ende haben Sie alle zu einem großen Fest eingeladen, wie Sie uns erzählt haben. Wie müssen wir uns denn das vorstellen?
Wiebe: Oh, das war so toll, das war wirklich … Während des Schreibens stand es für mich schon fest, sobald das Buch da ist, lade ich alle zusammen ein. Ich habe einen ganz tollen französischen Tapas-Koch engagiert, und der hat für uns gekocht bei mir zu Hause, und wir saßen dicht gedrängt alle an unserem Esstisch, und es war unheimlich lustig und laut und fröhlich, und eine Mutter sagte später – die hat eher so eine ein bisschen, ist eine schwierige Mutter –, oder eine, die von ihrer Tochter stark kritisiert wird, die war auch gekommen, und die sagte später, ach, Silvia, es war so schön, und wir haben ja gar nicht geweint. Dann dachte ich, wie kommst du denn auf die Idee, dass wir hier heute Abend weinen, und dann sagte sie, ja, ich dachte, jeder erzählt so seine schwierige Geschichte. Nein, das war unheimlich verbindend und schön.
Scholl: Sie haben eine schöne Party gemacht und sich ein bisschen die Kante gegeben!
Wiebe: So in der Art!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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