Sigrid Nunez: "Was fehlt dir"

Schwerelos schreiben über schwere Fragen

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Buchcover "Was fehlt dir" von Sigrid Nunez
In "Was fehlt dir" erzählt Sigrid Nunez von einer Frau, die eine Freundin in ihren letzten Lebensmonaten begleitet. © Aufbau Verlag / Deutschlandradio
Von Sigrid Löffler · 27.07.2021
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Wie schon in ihrem letzten Roman erzählt Sigrid Nunez eine Geschichte vom Sterben. Eine ältere New Yorker Schriftstellerin wird von ihrer krebskranken Freundin gebeten, sie in den Tod zu begleiten. Ihr Pakt bringt die beiden einander unerwartet nah.
Die New Yorker Autorin Sigrid Nunez, Jahrgang 1951, hat derzeit einen Erfolgslauf. Ihr siebter Roman, "Der Freund", gewann 2018 in den USA den "National Book Award" und wurde auch international ein großer Publikumserfolg.
Darin nimmt die Erzählerin nach dem Selbstmord ihres Schriftstellerfreundes dessen Hund, eine Riesendogge, zu sich. Gemeinsam trauern sie um den toten Freund. Der Hund erweist sich dabei selbst als Freund – zugleich Bürde, Stütze und Trost der Erzählerin.

Selbstmord und Freundschaft

Der neue Roman von Sigrid Nunez "Was fehlt dir" ist eine Art Gegenstück zu "Der Freund": Auch hier wird aus der Perspektive einer älteren New Yorker Schriftstellerin erzählt, auch hier geht es wieder um einen Selbstmord und um Freundschaft; und wiederum ist der Erzählton nüchtern, kühl und illusionslos, doch bei aller Kaltblütigkeit nicht ohne Witz und Humor, Mitgefühl, Güte und menschliche Wärme.
Der Plot ist simpel: Die Erzählerin wird von einer alten Freundin, die unter Krebs im Endstadium leidet, gebeten, sie in diesen letzten Monaten ihres Lebens zu begleiten und in der Nähe zu sein, wenn sie die tödlichen Tabletten nehmen wird, um selbst Schluss zu machen, denn: "Der Krebs kann mir nichts antun, wenn ich mir selbst etwas antue."
Die Sterbende verspricht, "dass es ein so großer Spaß wie nur irgend möglich wird". Ihre Haltung ist stoisch, sarkastisch und völlig ohne Selbstmitleid.

Liebevoll und innig

Diese Bitte stellt die Erzählerin vor eine schwierige Entscheidung und stürzt sie in ein Dilemma: Jede Antwort, egal, ob sie ja oder Nein sagt, birgt ein moralisches Risiko. Schließlich sagt sie zu, die Freundin beim Sterben zu begleiten. Nicht zuletzt deutet sie diese Erfahrung als eine Art Probelauf für ihren eigenen Tod.
Die beiden Frauen mieten ein hübsches Haus an der Küste Neuenglands, als würden sie gemeinsam Ferien machen. Sie schauen alte Filme, lesen gemeinsam Märchen, gehen einkaufen, kochen. Ihr Pakt bringt sie einander auf unerwartete Weise nahe. Ihr Umgang miteinander ist liebevoll und innig.
Sigrid Nunez führt noch eine zweite Bezugsfigur der Erzählerin in ihren Roman ein, einen bekannten Collegeprofessor und Autor, der mit einem apokalyptischen Vortrag über die globalen Krisen und den bevorstehenden Untergang der Menschheit und des Planeten durch die Universitäten tourt.
Wie sich später herausstellt, ist der Professor der Ex-Mann der Erzählerin, den sie lange nicht mehr gesehen hat. Jetzt wird er für sie zum kritischen Gesprächspartner, an dessen Reaktionen sie ihre eigenen Motive, Gefühle und Gedanken in der Rolle einer Sterbebegleiterin überprüfen kann. Der individuelle Tod der Freundin wird hier im globalen Maßstab gespiegelt – im planetarischen Tod, den der Professor für unabwendbar hält.
Sein Fazit: "Der einzige moralisch sinnvolle Kurs: Zu lernen, um Vergebung zu bitten und Abbitte zu leisten für das Leid, das wir der Menschheitsfamilie, allen anderen Geschöpfen und unserer wunderschönen Erde angetan haben. Einander zu lieben und zu vergeben, so gut wir können. Und zu lernen, uns zu verabschieden."

Traurige Geschichte, die tröstet

"Was fehlt dir" ist also ein hoffnungslos heiterer Roman, der ganz leicht und schwerelos die schweren Fragen Abschied und Tod und das Ende aller Dinge verhandelt. Er mäandert in Serpentinen und mit vielen Abschweifungen durch seine Themen, indem er viele Geschichten anderer Leute über deren Unglück mit Kindern, Partnern und Liebhabern absorbiert, sie seinem Erzählstoff einverleibt und mit allerlei Meditationen, Anekdoten, Erinnerungen und Zufallsfunden aus Büchern und Filmen anreichert.
Was auch immer die Erzählerin hört, sieht oder liest: Es sind immer lauter allertraurigste Geschichten. Doch jede gut erzählte Geschichte, wie traurig auch immer, tröstet. Und sie berührt immer das, was William Faulkner als unabdingbare Erfordernisse von Literatur definiert hat, die den heutigen Tag überleben will: die Rückkehr zu "den alten universellen Wahrheiten – Liebe und Ehre und Mitleid und Stolz und Mitgefühl und Opferbereitschaft".
Sigrid Nunez verabschiedet ihre Erzählerin aus dem Roman, ohne die Geschichte abzuschließen: "Was geschieht? Mein Herz schlägt voller Angst. Bald wird es zu Ende sein, dieses Märchen. Diese traurigste aller Zeiten, die auch eine der glücklichsten Zeiten meines Lebens gewesen ist, wird vorbei sein. Und ich werde allein sein."

Sigrid Nunez: "Was fehlt dir", Roman
aus dem Amerikanischen von Anette Grube
Aufbau Verlag, Berlin 2021
222 Seiten, 20 Euro

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