Politische Geschlechterbilder

Kommentar: Sigma Males und (r)echte Männlichkeiten

04:08 Minuten
Jordan Peterson sitzt in einem Sessel.
Der klinische Psychologe Jordan Peterson wurde unter anderem durch seinen Kampf für traditionelle Genderrollen weltbekannt. © imago / ZUMA Press / imago stock&people
Ein Standpunkt von Şeyda Kurt · 20.03.2024
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Rechte Akteure setzten verstärkt auf Erzählungen zur Männlichkeit, meint die Autorin Şeyda Kurt. Es gebe zwar auch einen progressiven Gegentrend, doch dabei gehe es womöglich nur um kosmetische Korrekturen für ein grundlegenderes Problem.
Glaubt man Papst Franziskus, lauert die größte Gefahr für die Menschheit nicht in Kriegen oder in der Klimakatastrophe, sondern in der sogenannten Gender-Ideologie. Das behauptete das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche bei einer Audienz Anfang März. Jene Ideologie hebe geschlechtliche Unterschiede auf. Und damit die ganze Menschheit.
Franziskus schlägt damit in die gleiche Kerbe wie evangelikale Rechte, traditionelle Männerrechtsaktivisten, professionelle Frauenaufreißer und sogenannte Incels, also Hetero-Männer, die ein Recht auf Sex beanspruchen und behaupten, unfreiwillig enthaltsam leben zu müssen - und im Internet rechte und misogyne Ideologien verbreiten. Sie alle sind Fürsprecher der Male Supremacy, einer männlichen Vorherrschaft, die im Feminismus den Untergang der Zivilisation sehen.

Neuer Typus Anti-Feministen: Sigma Males

Dabei hat sich in den letzten Jahren ein besonderer Typus Anti-Feminist herausgebildet: Sigma Male, der einsame Wolf. Anzug, Luxusuhr – das ist seine Uniform. Er verzichtet auf Pornos, Parties und Sex, schwört stattdessen auf eiserne Disziplin und körperliche Züchtigung. Mit einem Ziel: völlige Unabhängigkeit und finanzieller Erfolg. Seine männliche Potenz basiert nicht auf der Bestätigung durch Frauen, sondern auf Leistung und Selbstbeherrschung.
Ein prominentes Beispiel ist der neurechte Autor Jordan Peterson, einer der erfolgreichsten politischen Influencer weltweit. Mit einer Mischung aus Falschinformationen und Verschwörungsmythen zu einer angeblich genderideologischen, neo-marxistischen Invasion sowie Lebens- und Finanztipps erreicht sein You-Tube-Kanal fast acht Millionen Abonnentinen und Abonnenten.
„Damit steht er für eine neue Art des charismatischen Führers: für den rechtspopulistischen Selbstunternehmer im Netz“, beobachtet die Soziologin Carolin Wiedemann. Im Beharren auf einer vermeintlich natürlichen Ordnung der Geschlechter und individualistischer Eigenverantwortung verbinden sich neoliberale, konservative und rechte Kräfte, die den westlichen Wohlstand hüten wollen. Denn, so der Gedanke, nur eine Nation mit eindeutig vergeschlechtlichten Rollenbildern und Arbeitsteilungen bleibt leistungsfähig und kann sich im globalen Wettbewerb durchsetzen.

Auch AfD punktet mit Männlichkeitserzählungen

Mit nationalistischen Männlichkeitserzählungen erreicht auch die AfD auf TikTok so viele Jugendliche wie keine andere Partei. Mit einem Video ging der Spitzenkandidat für die Europawahl, Maximilian Krah, viral. Darin meint er: "Echte Männer sind rechts".
In Zeiten von multiplen Krisen verspricht die Idee eines echten, authentischen, männlichen Selbst gerade jungen Menschen Orientierung. Und zugleich zeigt sich in der Popkultur ein Gegentrend: positive Männlichkeit. Männer lackieren sich die Nägel und reflektieren toxische Prägungen ihres Geschlechts.
Doch sind das nicht kosmetische Korrekturen für ein grundlegenderes Problem? Kann es Männlichkeit ohne die Vorstellung einer vermeintlich „echten“ Männlichkeit geben? Das Mandat der Männlichkeit verlange von Männern, sich ständig als solche zu beweisen, meint die argentinische Anthropologin Rita Laura Segato. Etwa durch ein bestimmtes Auftreten oder Initiationsrituale, die der Beherrschung des Selbst und anderer dienen; und sich in der Gegenwart in den Enthaltsamkeitstrainings und Bootcamps der Sigma Males ausdrücken.
In neokolonialen, patriarchalen Verhältnissen wirke Männlichkeit unweigerlich zerstörerisch, so Segato. Und wer Männlichkeit in diesem Lichte konsequent zu Ende denkt, muss einsehen: Echte Männer sind tatsächlich rechts – wenn wir Männlichkeit als eine politische Kategorie verstehen. Eine, die Teil einer Geschichte und Gegenwart der Unterwerfung, des Nationalismus und Militarismus, Individualismus und Klerikalismus ist, die sich immer weiter fortschreibt. Auch durch Aussagen wie von Papst Franziskus. 

Şeyda Kurt studierte Philosophie und Romanistik sowie Kulturjournalismus in Köln, Bordeaux und Berlin. Als freie Journalistin schreibt sie unter anderem für den Zeit Verlag und war Kolumnist*in beim Theaterfeuilleton nachtkritik.de. Im April 2021 erschien ihr Sachbuchbestseller „Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist“, in dem sie Liebesnormen im Kraftfeld von Kapitalismus, Kolonialismus und Patriarchat untersucht. 2023 ist Kurts zweites Sachbuch erschienen: „Hass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls“.

Die Journalistin und Buchautorin Şeyda Kurt
© Thomas Spies
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