"Sie war kritisch, zugeneigt, aufmerksam"

Margarete Mitscherlich
Margarete Mitscherlich © picture alliance / dpa
Tilmann Moser im Gespräch mit Britta Bürger · 13.06.2012
Auf dem Höhepunkt ihres Ruhms war sie "zu einer Art weiblicher Monopolistin der psychoanalytischen öffentlichen Meinung" geworden, meint Tilmann Moser, der bei Margarete Mitscherlich studierte. Sie sei eine strenge Mahnerin und Moralistin gewesen.
Britta Bürger: "Ich heiße Margarete Mitscherlich, bin 92 Jahre alt und halte es für eine Zumutung, dass Menschen nicht nur alt werden, sondern auch noch sterben müssen." Worte der berühmten Psychoanalytikerin im Gespräch mit Ihrer Freundin Alice Schwarzer. Wenige Wochen vor ihrem 95. Geburtstag musste sich Margarete Mitscherlich gestern der Zumutung des Sterbens fügen. Bevor wir im Gespräch mit dem Analytiker Tilmann Moser an sie erinnern, hören wir, was Margarete Mitscherlich kurz vor ihrem 90. Geburtstag hier bei uns im Deutschlandradio Kultur gesagt hat. Jürgen König sprach sie damals auf die Nachwirkungen ihres berühmtesten Buches an: "Die Unfähigkeit zu trauern". Und er fragte Margarete Mitscherlich, wie sie 40 Jahre nach der Veröffentlichung die fortgeschrittene Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Deutschland empfindet.

Margarete Mitscherlich: Nun, das gehört zu den Dingen in meinem Leben, die mich wirklich sehr glücklich machen, ja, und sehr zufrieden machen, dass man das gelernt hat, dass man die Vergangenheit aufarbeiten muss und sie sehen muss, wie sie war, um auch zu verstehen, wie man selber oft mit in größte Unmenschlichkeiten gerutscht ist, also zumindest sich nicht genügend dagegen gewehrt hat, damit – das ist auch schon hunderttausendmal gesagt worden, aber ich glaube, man kann das nicht genügend sagen – es sich nicht wiederholt.

Jürgen König: Haben Sie jetzt, Frau Mitscherlich, mit 89 Jahren das Gefühl, wirklich, wie soll ich sagen, Erkenntnis gewonnen zu haben über sich selbst, über das Leben, über Gott, über das Lieben, über das Sterben?

Mitscherlich: Über das Sterben kann man überhaupt nichts gewinnen, weil man das nie erlebt hat. Die Tiere nehmen das wie selbstverständlich hin und da der Mensch, wenn ich das so sagen darf, ja auch dazugehört, zu diesen Lebewesen...

König: Zu den Tieren?

Mitscherlich: Ja, natürlich sind wir Tiere. Das ist doch klar.

König: Aber sehr hoch entwickelte.

Mitscherlich: Ja, mit Denken. Natürlich, deswegen beherrschen wir ja auch die gesamte übrige Tierwelt. Nein, die Erkenntnisse gewinnt man ja immer weiter, die gewinnt man in seiner Umgebung, in seinem Leben, man hat ja vieles erlebt. Was man muss, ist das eigenständige Denken, Verantwortung übernehmen, erwachsen werden, wenn man will, und nicht immer von anderen den Sinn des Lebens verlangen, sondern wissen, dass man, dass jeder als Erwachsener Verantwortung für sich, sein Land, seine Zeit hat.

König: Ihr Buch "Die friedfertige Frau" hab ich noch mal angelesen und da gleich den ersten Satz mir angestrichen: "Männer haben Kriege vorbereitet, angezettelt und ausgeführt, haben gegnerische Heere vernichtet, haben Gefangene gemacht". So geht es dann immer weiter mit der Aufzählung männlicher Verbrechen. Im jetzigen Buch "Eine unbeugsame Frau", da wirken Sie wesentlich gelassener. Stimmt der Eindruck? Hat das Alter Sie milder gestimmt?

Mitscherlich: Na ja, man hat ja, ich bin mehr so wie im jetzigen Buch. Vielleicht war ich es damals schon, aber wenn man irgendeine Sache vorantreiben will, muss man sie auf die Spitze treiben. Das erleben wir immer wieder. Wenn die Frauen allzu milde von Anfang an sind und so viel Verständnis für denjenigen, dann erreichen wir gar nichts. Also, im Kampf selber muss man hier und da die Dinge auf die Spitze treiben, das habe ich in der "friedfertigen Frau" sehr viel mehr getan. Dieser Kampf ist ja weitgehend gewonnen, würde ich denken, wenn er auch irgendwie nie ganz gewonnen werden kann. Die Frauen, die jungen Frauen, die heute leben, wissen nur nicht, wie viel besser es ihnen geht, als es noch unserer Generation ging.

Britta Bürger: Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich, 2007 im Gespräch mit Jürgen König. Gestern ist sie, wenige Wochen vor ihrem 95. Geburtstag, gestorben. Am Telefon begrüße ich einen Mann jetzt, der viel von Margarete Mitscherlich gelernt hat, den Psychoanalytiker Tilmann Moser. Guten Morgen, Herr Moser!

Tilmann Moser: Ich grüße Sie!

Bürger: Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre allererste Begegnung mit Margarete Mitscherlich?

Moser: Wenn ich mich recht erinnere, war es das sogenannte Interview zur Zulassung zur Ausbildung zum Psychoanalytiker. Und sie war kritisch, zugeneigt, aufmerksam, sensibel, und da habe ich meinen Wunsch, warum ich Psychoanalytiker werden will, vorgetragen, sie hat nachgehakt, sie war interessiert für mein biografisches Schicksal bis dahin – es war eine sehr gute Begegnung.

Bürger: Das war am Frankfurter Sigmund-Freud-Institut, dem Institut, das Margarete Mitscherlich gemeinsam mit Ihrem Mann Alexander damals gegründet hatte. Bei ihr haben Sie studiert, sie war lange Zeit auch Ihre Supervisorin. Was haben Sie konkret von ihr gelernt?

Moser: Ich erinnere mich an zwei Dinge besonders, das waren die Seminare, die sie zusammen mit ihrem Mann gemacht hat, das waren Seminare mit einem sehr freien Diskussionsklima. Man konnte eigentlich alles vorbringen unter der einzigen Einschränkung: Es galt eine absolute Freud-Verehrung. Das ist zwar in allen Schulen der Fall, auch bei den Jungianern, aber Freud war für sie so sehr ein Vorbild, dass man von dieser Begeisterung noch etwas mitbekommen hat. Aber es war auch die Zeit, in der die Psychoanalyse ein hohes öffentliches Interesse hatte, in den 70er- und 80er-Jahren. Das war das eine, das andere war die Supervision. Ich hatte jede Woche eine Stunde und berichtete über vier Stunden einer meiner ersten Psychoanalysen. Sie war hochaufmerksam, und ich konnte ihr jetzt in der Rückschau eine fast kriminalistische Begabung zusprechen, die Abgründe einzelner Patientenschicksale aufzuspüren. Und sie war streng, aber zugewandt – sie war einfach eine gute Lehrerin.

Bürger: Sie hatte ja selbst in London bei den Exil-Psychoanalytikern studiert, auch bei Anna Freud noch, Melanie Klein, Balint – gab es denn aber auch Situationen, in denen Sie sich von ihr in diesen Supervisionen im Studium missverstanden gefühlt haben oder überhaupt auch auf Konfrontation mit ihr gegangen sind?

Moser: Damals noch nicht. Dafür war sie zu sehr strenge Lehrerin, aber wenn ich dann nachgedacht hatte über die Stunden, dann konnte ich auch anbringen, dass ich glaube, dass sie diesen oder jenen Aspekt nicht so gut aufgegriffen hatte. Aber ich war ja damals noch wie ein Löschblatt, was psychoanalytische Theorie aufgegriffen hat und in der Behandlungslehre einfach neugierig war, was sagt die kompetente Meisterin. Also es war schon ein Klima auch damals noch der Verehrung unserer Lehrer. Aber sie war eben darin auch Vorbild, aber natürlich waren wir Jüngeren oder ich besonders, später auch aufmüpfig, weil etwas von der modernen Analyse, also zum Beispiel von den frühen Störungen noch – auch später – an ihr vorbeigegangen war. Sie wurde eben die Pionierin der Anwendung der Psychoanalyse auf große Gruppen oder ganze Nationen, und darin wurde sie für viele auch Vorbild. Sie hat den Frauen auch Mut gemacht, sich öffentlich zu äußern. Und als diese Pionierin wurde sie ja auch zur Grande Dame der deutschen Psychoanalyse.

Bürger: Zum Tod der Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich sind wir hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Psychoanalytiker und Schüler von Margarete Mitscherlich, Tilmann Moser. Margarete Mitscherlich war die Tochter einer deutschen Schuldirektorin, einer Frauenrechtlerin mit deutschnationalem Bewusstsein. Ihr Vater war ein dänischer Landarzt und wohl der einfühlsamere und tolerantere dieser Eltern. Wie hat Margarete Mitscherlich denn selbst die Nazi-Zeit erlebt, über die sie später dann so ausführlich nachgedacht hat?

Moser: Sie war vor allem Beobachterin, sie hat ja in der Zeit studiert und promoviert. Das war für sie schon – waren tiefe Eindrücke, und ich denke, ihre Perspektive aus der Sicht auch des dänischen Vaters machte sie zu einer scharfen Beobachterin. Das hat ihr erlaubt, eben sowohl eine Innensicht wie eine Außensicht aufrechtzuerhalten. Und dann wurde sie neben ihrem Mann eben – ich würde sagen – die große Mahnerin in Bezug auf die Gefahr, ob sich das jemals wiederholen konnte. Es war eine Haltung, die den Deutschen, und das hat sie auch in manchen Kreisen unbeliebt gemacht, immer die Schuld und die Scham vorgehalten hat. Ihr Buch "Über die Unfähigkeit zu trauern" wurde zu einem Klassiker, aber wie alle Klassiker gab es eben auch Gegnerschaft, die kumuliert hat später in der Paulskirchen-Rede von Martin Walser, wo er von der "Moralkeule" sprach. Also die Mitscherlichs waren im Bezug auf Politik und Nazitum Mahner, sehr strenge Mahner, auch Moralisten, und dieser öffentliche Auftritt als mahnende Moralisten hat etwas auch ihnen an Gegnerschaft eingebracht.

Bürger: Margarete Mitscherlich hat selbst nicht nur eine Psychoanalyse durchlaufen, sondern drei. Das sind also unzählige Stunden ihres Lebens. Welche Problematik trug sie denn selbst mit sich herum, in welcher Richtung suchte sie nach immer weiterer Erkenntnis?

Moser: Also ich würde einmal einfach von einer Steigerung der Neugier sprechen, aber auch einer Steigerung der Introspektion. Allerdings hat man ihr später vorgeworfen, dass sie zugunsten ihrer intellektuellen Karriere ihren ersten Sohn an ihre eigene Mutter abgegeben hat.

Bürger: Da war er zwei Jahre alt.

Moser: Ja, das war sozusagen ein Schatten über ihrem Leben, das hat sie wohl später auch bereut. Aber sie blieb einfach die hellwache Forscherin, allerdings zögerlich gegenüber der Radikalität, mit der später die frühe Mutter-Kind-Beziehung untersucht wurde, und auch in die Psychoanalyse eingeführt wurde, der große Begriff heißt ja die sogenannte Gegenübertragung, also die Feinbeobachtung dessen, was der Therapeut erlebt im Zusammensitzen oder Zusammenarbeiten mit seinem Patienten. Das bedeutet, genau hinhören, was tut sich in der eigenen Seele, wenn eine andere Seele mit ihrem Leiden und ihren Störungen auf den Therapeuten einwirkt. Also an der rein klinischen Entwicklung der Psychoanalyse mit den Fortschritten dieser Feinarbeit hat sie weniger teilgenommen als an der Analyse gesellschaftlicher Prozesse.

Bürger: Margarete Mitscherlich hat ja in den letzten Jahren noch häufig die Öffentlichkeit gesucht. Ihr letztes Buch "Die Radikalität des Alters" hat sie in verschiedensten Talkshows noch vorgestellt, 90-, über 90-jährig. War das ihr Weg, der Vergänglichkeit nicht auszuweichen?

Moser: Einerseits. Auf der anderen Seite ist ein Phänomen passiert: Ich denke, sie konnte nicht nein sagen, wenn ein Wunsch entstand, sie möge sich äußern. Sie war einfach zu einer Art weiblicher Monopolistin der psychoanalytischen öffentlichen Meinung geworden. Das führte dazu, dass ein Teil des Publikums neugierig blieb: Was hat sie denn zu sagen? Und andere winkten ab: Ja, es ist immer wieder das Gleiche einer auch etwas überholten Psychoanalyse in rein freudschen Kategorien. Das war eine Kategorie, nicht Abschied nehmen zu können von der öffentlichen Rolle.

Bürger: Der Psychoanalytiker Tilmann Moser zum Tod von Margarete Mitscherlich. Ich danke Ihnen sehr fürs Gespräch!

Moser: Bitte, gern geschehen!
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