Gesellschaft in Gefühlsstarre

30.11.2010
Auch mit 93 Jahren möchte sich die große alte Dame der Psychoanalyse nicht den Glauben nehmen lassen, dass der Mensch zum Frieden tauge. Für ihr neues Buch hat sie Vorträge und Reden aus ihrem Fundus überarbeitet.
Der schöne Titel des neuen Buches der 93-jährigen Margarete Mitscherlich ist so verlockend wie irreführend. Denn "Die Radikalität des Alters" ist nicht Thema des Buches, sondern nur die Überschrift eines Kapitels in diesem Band, in dem die große alte Dame der deutschen Psychoanalyse noch einmal die wichtigsten Domänen ihres Lebens bedenkt: Die Unfähigkeit zu trauern nach dem nationalsozialistischen Grauen, die Entwertung und Selbstverleugnung der Frauen in männlich dominierten Gesellschaften, das Zusammenwirken von Sexismus und Rassismus, die Bürokratisierung und Ideologisierung der Psychoanalyse.

Die "chronisch Unangepasste", wie Alice Schwarzer sie im Vorwort nennt, hat Vorträge und Reden aus ihrem Fundus überarbeitet, manche Kapitel neu geschrieben, auch eklatante Wiederholungen in Kauf genommen, und sich und uns einen Überblick gegeben über die Nachkriegsgeschichte der Deutschen und die Wiederbelebung der von den Nationalsozialisten zerschlagenen Psychoanalyse.

Vieles kennen wir, worüber sie schreibt. Die verderbliche Opfersucht von Frauen, diktiert von der Angst vor Liebesverlust. Oder die bedrohliche Gefühlsstarre, in die eine Gesellschaft versinkt, die sich der lebendigen Trauer verweigert. Denn wer sich selber nicht kennt und vertraut, argwöhnt in allem Neuen und Fremden Gefahr und Feind. Das ist nicht neu – und doch leider immer noch aktuell. Und deshalb ist es wichtig zu begreifen, wie bis in unsere heutige Politik hinein – zum Beispiel gegenüber Asylbewerbern oder Einwanderern - die unverarbeitete Geschichte ungut weiterwirkt.

Margarete Mitscherlich hat stets Menschen und ihre Gesellschaft in den Blick genommen, hat Psychoanalyse und Politik in einen Zusammenhang gebracht. Als Tochter eines patriotischen Dänen und einer national gesinnten Deutschen, ist sie zwischen zwei Ländern, zwischen zwei Meinungen aufgewachsen. Wirklich politisiert wurde sie erst durch Hitler. Und der Nationalsozialismus ist bis heute das Thema, das sie erschreckt in seiner Entstehungs- und Wirkungsgeschichte.

Wie kann es nur sein, fragt sich die Ärztin, dass ausgerechnet Ärzte im Dritten Reich zu willigen Handlangern der Rassenfanatiker werden konnten. Sie sucht nach Erklärungen, erörtert klug und bleibt sympathisch ratlos. Und möchte sich doch auf keinen Fall den Glauben nehmen lassen, dass der Mensch entwicklungsfähig sei, dass er zum Frieden tauge.

Margarete Mitscherlich ist alt und gescheit und kein bisschen allwissend geworden. Vielleicht gehört auch das zur Radikalität des Alters: Zu akzeptieren, dass es keine eindeutigen Antworten gibt, sondern sogar immer wieder zwei Meinungen zu einem Thema.

Erkenne dich selbst – das hat sie ihr Leben lang versucht. Und dem Diktum ein zweites hinzugefügt: Erkenne deine Zeit. Und das tut sie mit Lust und Zorn. Und ist darin vorbildhaft für uns gesellschaftlich manchmal so schlappmüden Zeitgenossen.

Besprochen von Gabriele von Arnim

Margarete Mitscherlich: Die Radikalität des Alters - Einsichten einer Psychoanalytikerin
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2010
270 Seiten, 18,95 Euro