Geschlechterklischees

Wie umgehen mit Stereotypen in Kindermedien?

Illustration von 6 Hunden in Feuerwehrmontur und einem Jungen, die freudig in die Luft springen.
In der beliebten US-Trickserie "Paw Patrol" ist nur eine der sechs Hauptfiguren weiblich: Skye trägt rosa, spricht mit piepsiger Stimme © imago images / Everett Collection / Nickelodeon Network
Klischees und diskriminierende Sprache in Kinderbüchern und Kindermedien führen immer wieder zu hitzigen Debatten. Schnell ist von Canceln und Zensur die Rede. Mittendrin: die Eltern. Was soll man noch vorlesen? Was anschauen? Eine Orientierungshilfe.
Schon einmal vom Schlumpfine-Prinzip gehört? Die Schriftstellerin und Kritikerin Katha Pollitt hat diesen Begriff bereits Anfang der 1990er-Jahre geprägt und damit ein gängiges Muster in Film, Fernsehen und Literatur beschrieben: Einer rein männlichen Gruppe von Protagonisten mit differenzierten Charaktereigenschaften wird eine einzige weibliche Figur zur Seite gestellt, deren Hauptmerkmal ihr Geschlecht ist. Nicht selten wird jene weibliche Figur dann auch noch als extrem hilfsbedürftig und abhängig dargestellt und dient den männlichen Figuren am Ende ausgestandener Abenteuer bestenfalls als Trophäe.

Stereotype in Kindermedien: Wo liegt das Problem?

Bis heute ist das Schlumpfine-Prinzip nicht totzukriegen. Bestes Beispiel ist die „Paw Patrol“, eine beliebte amerikanische Trickserie, in der Hundewelpen zu Rettungseinsätzen ausrücken. Von den sechs Hauptfiguren ist nur eine weiblich: Skye trägt rosa, spricht mit piepsiger Stimme und rettet häufig niedliche Häschen oder Kätzchen, während die Jungs Brände löschen oder dicke Brocken wuchten.
Eine typische Verteilung, auch hierzulande. Im deutschen Film und Fernsehen kommen laut einer Studie aus dem Jahr 2017 auf eine weibliche Hauptfigur drei männliche. Bei den Fantasiewesen ist es noch ausgeprägter: Auf eine weibliche Figur kommen neun männliche. Auch Kinderbücher stecken noch immer voller Geschlechterklischees. Das ergab unter anderem eine Recherche der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 2019.

Kinder richten ihre Geschlechtsidentität und ihr Verhalten an den ihnen zur Verfügung stehenden Vorbildern aus, sie suchen aktiv nach Rollenmodellen und konstruieren dadurch ihr Wissen über die Geschlechter.

Prof. Dr. Weertje Willms

Während die Jungs auf Achse sind und vielfältige Abenteuer bestreiten, helfen die Mädchen im Haushalt, reiten oder lassen sich retten. Das Problem mit den Klischees: Sind Kinder langfristig sexistischen oder anderen Stereotypen ausgesetzt, überträgt sich das auf ihr Selbstbild. Es gilt als gesichert, dass Vorstellungen darüber, wie eine Frau oder ein Mann zu sein hat, im Kindesalter entstehen. Und dass Medien hierbei eine wichtige Rolle spielen.

Was machen Geschlechterklischees mit Kindern?

Weertje Willms ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 2022 erschien ihr Buch Gender in der Kinder- und Jugendliteratur. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Sie erklärt: Für Kinder sei die Geschlechtszugehörigkeit die zentralste Form der sozialen Identität. Bereits in einem Alter von etwa fünf bis sieben Jahren strebten sie danach, sich geschlechterkonform zu verhalten und orientierten sich dabei an Vorbildfiguren.
Neben Computerspielen, Serien und Filmen oder den Sozialen Medien spielen auch Kinderbücher noch immer eine wichtige Rolle, sagt Willms. "Nicht zuletzt deswegen, weil prägende Kinderbücher oft von Generation zu Generation weitergegeben werden - und damit auch bestimmte Genderkonstrukte immer wieder verfestigt werden."
Was aber, wenn keines der angebotenen Vorbilder richtig passen will? Die Rapperin Sukini (im Erwachsenengenre bekannt als Sookee) erzählt im Interview mit dem Kinderpodcast Kakadu von ihren Kindheitserinnerungen: "Ich weiß noch, ich war ganz alleine als Kind." Sukini habe weder mit Puppen noch mit Fußball viel anfangen können und sei ihre ganze Kindheit und Jugend über "irgendwo dazwischen" gewesen, wie sie sagt. Die Frage, was ein Junge darf und was ein Mädchen, habe sie bis weit in ihr Erwachsenenalter beschäftigt. "So viel verschenkte Energie! Ich hätte mich ganz anderen Dingen widmen können. Das hat mir einfach Lebenszeit geraubt", sagt sie heute.
Die Künstlerin Sookee steht beim Southside-Festival auf der Bühne und lacht
Die Künstlerin Sookee macht feministischen Hip-Hop für Kinder und hat unter anderem Prinzessin Peach einen Song gewidmet© picture alliance / dpa / Christoph Schmidt

Präskriptiv versus deskriptiv
Stereotype sind sozial geteilte Annahmen darüber, wie etwas ist (deskriptiv) oder sein sollte (präskriptiv). Problematisch sind nach Ansicht von Forschenden wie Ilka Wolter von der Universität Bamberg vor allem die präskriptiven Erwartungen. Sie sind es auch, die letztlich einen Menschen in der Entwicklung einschränken können. Insbesondere dann, wenn wir von kleinauf diesen Erwartungen ausgesetzt sind.

Sukini macht feministischen Hip-Hop für Kinder und hat unter anderem Prinzessin Peach einen Song gewidmet. Jahrzehntelang kannte man Peach als hilfebedürftigen Sidekick von Super Mario aus den gleichnamigen Computerspielen. Als typische "Jungfrau in Nöten" wartete sie darauf, von Mario gerettet zu werden. Sukini erzählt im Song "Prinzessin Peach" aber eine ganz andere, aufregende Geschichte über die Figur. Darin heißt es: "In echt hat sie's faustdick hinter den Ohren. Um gerettet zu werden, ist eine Prinzessin nicht geboren."

Welche Figuren brauchen Kinder?

Wie Weertje Willms von der Universität Freiburg beschäftigt sich auch Ilka Wolter mit stereotypen Geschlechterdarstellungen in Kindermedien. Wolter hat an der Universität Bamberg die Professur für Bildungsforschung mit dem Schwerpunkt Entwicklung und Lernen inne. Beide Wissenschaftlerinnen sind sich einig: Kinder brauchen vielfältige Figuren. Charaktere mit unterschiedlichen Verhaltensweisen und Eigenschaften, unterschiedlicher Herkunft und wechselnden Emotionen. Komplex und widersprüchlich, so wie echte Menschen auch.
Problematisch wird das insbesondere bei weiblich gelesenen Figuren, die bis heute in Büchern, Filmen und Serien zu oft in einseitige, passive Nebenrollen gedrängt werden, während männlich gelesene Figuren aktiv handeln und selbstbestimmt auftreten. "In der Forschung sprechen wir auch von agentischen Eigenschaften", sagt Ilka Wolter im Interview. Fehlen jene agentische Eigenschaften, habe das mögliche Auswirkungen darauf, welche Fähigkeiten eine junge Zuschauerin oder Leserin sich selbst zuschreibt.

Können Eltern und Lehrkräfte den Klischees entgegenwirken?

Sexistische Stereotype sind allgegenwärtig und Kindermedien nur ein Baustein in der Entwicklung und Sozialisierung. Trotzdem können Eltern, Erziehende und andere Bezugspersonen tatsächlich einen Einfluss nehmen. Weertje Willms erklärt das so: "Die Wirkung, die Rollenmuster auf Kinder ausüben, ist umso stärker, je höher die Dosis ist, die ein Kind abbekommt und je weniger im unmittelbaren Umfeld diese Konstrukte reflektiert und dekonstruiert werden." Deshalb sei es wichtig, dass im Elternhaus, in der Schule oder im Sportverein "Gendersensibilität" herrsche. "Im Sprechen, im Verhalten und eben auch in dem, was an medialen Einflüssen angeboten wird. Wenn auf diese Weise Klischees entgegengewirkt wird, werden sie sich langfristig immer mehr auflösen können", so Willms.
Auch Lehrkräfte könnten überdenken, inwiefern sie Geschlecht im Klassenraum unbewusst sichtbar machen, auch ohne sie direkt anzusprechen, sagt Ilka Wolter. Etwa durch getrennte Sitzordnungen oder die Art und Weise welche Rückmeldungen Kinder bekommen, welche Erwartungen an sie herangetreten werden oder auch wie sie angesprochen werden. "Studien zeigen, dass sich das darauf auswirkt, mit welcher Motivation oder welchem Interesse Kinder an bestimmte Bereiche herangehen."

Was, wenn das Kind klischeehafte Geschichten liebt?

An rosa Feen und blauen Rittern ist an sich erst einmal nichts verkehrt. Auch in den reflektiertesten Familien sei es völlig normal, dass Kinder klischeehafte Geschichten mögen, sagt Weertje Willms. Eben weil sie überall davon umgeben seien und diese auch Orientierung und Stabilität böten. Sie rät: "Ich würde immer das Gespräch suchen und den Kindern erläutern, warum ich solche Darstellungen problematisch finde, warum sie schlechte Vorbilder sind, denen nicht nachzueifern ist."

Wenn man als Eltern von dieser Meinung selber überzeugt ist und sie nicht nur ein Lippenbekenntnis ist, dann kann man nach meiner Erfahrung ganz entspannt sein, dass aus rosagekleideten Mädchen und wilden Ritterjungs, die klischierte Geschichten lieben, später gendersensible Jugendliche und junge Erwachsene werden.

Weertje Willms

Bildungsforscherin Ilka Wolter nennt das "Rauskommen aus der automatisierten Informationsbearbeitung". Die Krux mit den Klischees ist, dass Kinder sie präreflektiv aufnehmen, sie also gar nicht hinterfragen. Und genau hier können erwachsene Bezugspersonen nach Ansicht der beiden Wissenschaftlerinnen helfen. Konkret heißt das zum Beispiel: Beim gemeinsamen My Little Pony gucken ruhig mal anhalten und besprechen, was da genau passiert. Insgesamt gilt: Die Mischung macht's. Von Verboten oder dem Schlechtmachen der geliebten Sendung oder des Lieblingsbuches raten Willms und Wolter beide eher ab.
Bild von einem Pony, das mit einem anderen Pony per Videocall telefoniert
Kritisch auf die Serien schauen, darüber sprechen, ohne sie schlecht zu machen - das ist die Herausforderung für viele Eltern© picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Uncredited

Wie umgehen mit Werken, die nicht mehr zeitgemäß sind?

Nicht wenige Eltern möchten gern geliebte Erzählungen aus der eigenen Kindheit mit ihren Kindern teilen. Was aber, wenn darin diskriminierende Ausdrücke genutzt und Stereotype reproduziert werden? Sollen jetzt etwa Kinderbuchklassiker aus den Regalen aussortiert werden? Hier gibt es viele verschiedene Ansätze. Manche Verlage entscheiden sich, bestimmte Begriffe in ihren Neuauflagen zu verändern oder diskriminierende Passagen zu streichen. Zuletzt hatte der britische Puffin-Verlag Änderungen an den Werken von Roald Dahl vorgenommen und dabei die Debatte um Kunstfreiheit versus diskriminierungssensible Sprache von Neuem angeheizt.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Astrid Lindgren, würde sie heute noch leben und darüber mitbestimmen können, sagen: Ich brauche diese rassistische Bezeichnung dringend für mein Werk. Ich glaube, sie würde in Demut und Anerkennung sagen: Das ist total okay, danke, dass ihr mich darauf aufmerksam gemacht habt.

Sukini

Weertje Willms rät zu einem pragmatischen Umgang. Beim Vorlesen könne man heikle Stellen einfach überspringen oder selbst umformulieren. Geht es tiefer in die Struktur, wie etwa beim Klassiker "Der Trotzkopf", könne man abwägen, ob die Texte noch genügend andere Geschichten enthalten und über problematische Aspekte sprechen. So könne man auf der Grundlage desselben Stoffes sowohl über positive Werte als auch über problematische Konstrukte sprechen. "Sicherlich gibt es auch Bücher, bei denen wirklich nichts mehr zu retten ist, aber ich glaube, das würde man dann beim neuerlichen Lesen mit Erwachsenenaugen auch selber merken und nicht mehr den Wunsch verspüren, sie weiter zu geben."
Rapperin Sukini hätte selbst übrigens kein Problem damit, wenn ihre Texte im Nachgang verändert würden, wenn sich dadurch leidvolle Erfahrungen verhindern ließen. "Wir wissen, dass bestimmte Bezeichnungen zum Beispiel für Kinder of Colour und Schwarze Kinder beim Lesen schmerzhaft sind, dass das unangenehm ist, dass sie sich schämen. Warum soll man jemandem dieses Leid antun?"

Alternativen zu Medien mit Geschlechterklischees

Sukini selbst schätzt es, wenn alte Stoffe neu verhandelt würden. Etwa in dem Märchenband Power to the Princess. "Es ist natürlich nicht okay, wenn der Prinz die schlafende Prinzessin küsst. Da müsste man schon mal vorher fragen. Man behält den Kern der Geschichte bei und lässt das in der Gegenwart ankommen, das finde ich ganz prima."
Warum also nicht gemeinsam mit den Kindern neue Klassiker definieren und eigene Kindheitserinnerungen schaffen? Im Folgenden finden Sie dazu ein paar Empfehlungen.

Serientipps von Sukini

  • Ridley Jones: Die kleine Ridley lebt im Museum und ist Hüterin über die Exponate, die nachts lebendig werden. (Netflix)
  • Doc McStuffins: Ihre Mama ist Ärztin und Doc McStuffins erweckt Spielzeug und Kuscheltiere zum Leben, um zu schauen wo es ihren Patienten weh tut. (Amazon Prime Video)
  • Ada Twist: Die Nachwuchswissenschaftlerin geht wichtigen Fragen auf den Grund. (Netflix)

Die Kakadu-Redaktion empfiehlt:
Im April 2023 kam Super Mario Bros. - Der Film in die Kinos. Der titelgebende Held ist darin allerdings eher eine Art Sidekick für Prinzessin Peach, die heimliche Hauptfigur im Film. Diese Prinzessin kann nämlich ausnahmslos alles und hilft Mario dabei, seinen Bruder Luigi zu retten. Außerdem hat die Redaktion eine Playlist mit Kindermusik zusammengestellt: 100% frei von einschränkenden Rollenmustern.

Tipps aus der Community von Deutschlandfunk Kultur:

  • Good Night Stories for Rebel Girls: ein moderner Klassiker. Porträtiert werden Frauen, die Geschichte geschrieben haben. Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe von Büchern im „Rebel Girls“-Universum. Unter anderem eines über Schwarze Frauen, Migrantinnen oder Heldinnen der Literatur. Erschienen bei Hanser.
  • Mira und das fliegende Haus: Farben sind für alle da (Buch)
  • Hayao Miyazaki: Prinzessin Mononoke (Film)
  • Kletter-Ida (Film)
  • Michael Ende/Wieland Freund: Rodrigo Raubein und Knirps, sein Knappe (Buch)
  • Susanna Isern/Ana Gomez: Ella Piratella (Buch)
  • Drachenzähmen leichtgemacht (Film)
  • Florentine Joop: Käpt'n Lotta (Buch)
  • Lauren Child: Ruby Redfort – Die jüngste Geheimagentin der Welt (Buch)
  • Märchenland für alle (Buch)
  • Amy Novesky: Das Mädchen auf dem Motorrad (Buch)

Quellen: Deutschlandradio
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