Serebrennikovs „Der Wij“ am Thalia Theater

Wie Menschlichkeit im Krieg auf allen Seiten verkommt

08:09 Minuten
Ein Mann mittleren Alters steht im Scheinwerferlicht auf der Bühne. Hinter ihm eine Diskokugel. Er ist umrahmt von weiteren Personen, die Instrumente spielen.
„Der Wij“ in Hamburg ist ein Abend, der sehr an die Nieren, aber auch an die Nerven geht, urteilt unser Kritiker Michael Laages. © Fabian Hammerl
Von Michael Laages · 03.12.2022
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Vor der Premiere der Gogol-Bearbeitung von „Der Wij“ wurde dem Thalia Theater kulturelle Aneignung vorgeworfen. Warum die freie Adaption der Erzählung durch Serebrennikov und Bohdan Pankrukhin keine russische Propaganda ist, erklärt unser Kritiker.
Die Sensation liegt noch nicht lange zurück: Anfang dieses Jahres durfte der russische Regisseur Kirill Serebrennikov plötzlich den Hausarrest in Moskau verlassen und am Thalia Theater in Hamburg eine Produktion zu Ende inszenieren: „Der schwarze Mönch“ nach Anton Tschechow.
Eineinhalb Monate später begann Russlands Krieg gegen die Ukraine – und Serebrennikov, der Dissident, näherte sich sofort, gemeinsam mit dem jungen ukrainischen Dramatiker Bohdan Pankrukhin, einem anderen russischen Klassiker: Nikolai Gogol. Dessen Erzählung „Der Wij“ gehört zu Gogols Buch „Mirgorod“, das 1835 Mythen und Fabeln aus Gogols ukrainischer Kinder- und Jugendzeit versammelt.

Haltlose Proteste vor der Aufführung

Die alte Geschichte wurde für die Autoren zur „Inspiration“ für ein Stück, das drastisch vom Krieg erzählt – und bei der Uraufführung gestern durchaus umstritten war.
Laut war der Protest vor dem Theater – und trotzdem schwer verständlich: Kirill Serebrennikov, der nun wirklich genug Repressalien durchlebt hat im eigenen Land, ist hier plötzlich zum Feind geworden – weil er Russe ist, wie scharf auch immer er den Krieg gegen die Ukraine immer verurteilt hat; und weil er sich hier (angeblich) ur-ukrainische Kultur angeeignet habe: „Schande“ über das Theater, das so etwas möglich mache.
Ein älterer und ein junger Mann sitzen vor einem gefesselten Soldaten.
Eine vermutlich ukrainische Familie hält einen russischen Soldaten gefangen.© Fabian Hammerl
Der Mitautor Pankrukhin allerdings ist Ukrainer, und Nikolai Gogol gilt vermutlich auch weiterhin als russischer Klassiker, obwohl er 1809 in der ukrainischen Poltawa-Provinz zur Welt kam. Und die Aggressoren aus Russland wurden im Stück nie und nirgends zu Opfern erklärt – auch das hatten die Protestparolen behauptet.
Peinlich war das schon. Zum einen war ja reichlich internationales Publikum nach Hamburg gekommen, zum anderen haben Pankrukhin und Serebrennikov ein Stück geschrieben, das diesen Krieg wie jeden anderen als Wurzel allen inhumanen Grauens kenntlich werden lässt. Und das dürfen nicht nur Ukrainerinnen und Ukrainer.

Versteckt in einem Kellerloch

In einer Art Keller hat sich eine (vermutlich ukrainische) Familie versteckt, vielleicht ist das die alte Turnhalle einer Dorfschule mit einem Basketballkorb. Drei Söhne und ein Großvater halten hier einen russischen Soldaten gefangen. Voller Rachegelüste sind die Jungen, aber der Alte hat einen anderen Plan – der Gefangene soll der toten Schwester der drei Brüder vorlesen; vielleicht sei sie ja so wieder zum Leben zu erwecken in ihrem Schneewittchensarg aus rohen Brettern, an dem der Vater sitzt und voll Trauer zu keiner menschlichen Regung mehr fähig ist.
Und tatsächlich – der stumme Soldat liest zwar nicht wirklich aus Shakespeares „Romeo und Julia“, aber alle anderen sind wie infiziert von der Lektüre und sprechen sie, das Mädchen auch. Und wie sie beginnt nun auch alles andere zu leben in diesem wüsten Kellerloch, zumindest für kurze Augenblicke. Auch der russische Gefangene begegnet plötzlich seiner Mutter, die ihn ziehen ließ in den Krieg und noch immer auf Vorteile danach zu hoffen scheint.
Immer wieder aber zwingen Szenen von schmerzhafter Härte die Allgegenwart des Krieges vor den Kellerfenstern zurück ins Bewusstsein der Eingeschlossenen drinnen. Sogar die Bäume draußen sind abgeholzt – die Familie könnte den Fremden nicht mal aufhängen. Die Brüder erzählen Unerträgliches und eigentlich Unerzählbares, von Massenerschießungen etwa.
Drei junge Männer halten eine bewusstlose Frau. Im Hintergrund spielt ein älterer Mann Gitarre.
In Serebrennikovs Stück dreht sich viel um die tote Schwester.© Fabian Hammerl

Der slawische Rachegeist Wij

Nach Shakespeare zu Beginn kommt dann plötzlich Gogol ins Spiel und eben der "Wij": ein mythisches Monster, eine Art Rachegeist aus der slawischen Volksmythologie, der jeden und jede mit Blicken töten kann. Deshalb bedecken bodenlange Lider und Wimpern die Augen. Wenn die gehoben werden, ist der Blick des Wij vernichtend. Schon in einem Text fürs „Spiegel“-Magazin gleich nach Kriegsbeginn hatte Serebrennikov dieses Bild beschworen: dass die Lider wieder gehoben werden und die Völker der Welt dem Krieg wieder ins Auge blicken müssten.
Der verzweifelte Vater von Beginn wird jetzt zum Zerstörergeist. Serebrennikov lässt ihn allerdings als ziemlich abgeranzten Popsänger und Showmaster auftreten und entschärft damit die Kraft der Figur leider beträchtlich. Aber dieser Wij verteilt nochmal deutlich die Rollen – der gefangene Soldat kam als „Befreier“ (wie es die russische Propaganda seit Beginn des Krieges und im Grunde bis heute behauptet), er gehört zu denen, die den unversöhnlichen Hass hervorgerufen haben, der ihnen jetzt entgegenschlägt.

Abraumhalde verzweifelter Emotionen

Und schließlich beginnt auch der geschundene Soldat zu sprechen – in tiefster Verzweiflung darüber, Teil dieses Systems der Vernichtung geworden zu sein. Schuldig bekennt er sich. Krieg – das zeigen Pankrukhin und Serebrennikov – kennt nur Verlierer, keine Sieger.
Der Text mäandert wüst und wild hin und her zwischen Kriegsgräueln und literarischem Zitat – auf einer Art Abraumhalde verzweifelter Emotionen. Das russisch-ukrainisch-deutsch durchmischte Ensemble beschwört Schrecken und Schmerz mit exzessiver Energie. Die Aufführung geht derart an die Nieren, dass es der allerletzten Regieanweisung gar nicht bedürfte: Keinen Applaus bitte.
Und bitte auch keinen Protest mehr auf der Straße gegen eine Theaterarbeit, wie sie klarer kaum sein könnte in Zeiten des Krieges.

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