Schwindelerregendes Erzählkarussell

07.11.2011
Wieder stehen der letzte Milchmann Südjütlands und seine Familie im Zentrum eines düsteren Romans des Dänen Erling Jepsen. Doch diesmal lebt das Buch nicht nur von der Groteske, sondern auch elegische Tonarten werden angestimmt.
Die Ankündigung eines neuen Jepsen-Romans löst vertraute Spannung aus. Schließlich ist der aus Südjütland stammende Erling Jepsen (geb. 1956) mit Titeln wie "Die Kunst, im Chor zu weinen" (dt. 2008) und "Fürchterlich glücklich" (dt. 2010) längst zu einem verlässlichen Markenzeichen für Tragikomödien und schwarzen Humor vom Feinsten geworden.

Südjütlands charakterlos öde Landschaft (so der Autor) ist stets der literarische Schau- und Kampfplatz, auf dem sich alle Dramen á la Jepsen abspielen. Die Einheimischen rekeln sich in einer peinlichen Infantilität und pflegen zwischen dänischem Frühstücksprogramm und deutschem "Tatort" verschiedene Ismen: Sexismus, Nationalismus, Rassismus. Ertönt dazu noch der südjütländische Dialekt, klingeln beim Autor die Alarmglocken.

Nun hat der Däne sein schwindelerregendes Erzähl-Karussell ein weiteres Mal in Gang gesetzt. Wieder hat die Familie des letzten Milchmannes der Region darin Platz genommen: Vater, Mutter und die Kinder Allan, Sanna, Asger. Allerdings fährt das Familienoberhaupt nun als Leichnam mit. Der von allen gehasste Psychopath hat das Zeitliche gesegnet, es ist seine letzte Reise. Alle könnten aufatmen, doch es stellt sich keine Erleichterung ein. Denn sein Tod ruft viele Fragen auf, vor allem bei Allan, dem ewigen Nestbeschmutzer. Er agiert als das Alter Ego des Autors. Wie dieser ist er ein erfolgreicher Schriftsteller und hat mit der künstlerischen Vermarktung seiner schaurig-komischen Kindheit und Jugend Karriere gemacht. Seine Stücke werden sogar am königlichen Theater in Kopenhagen aufgeführt. Doch sobald Allan heimatlichen Boden betritt, schrumpft er zum stotternden Zwerg.

Nun treibt ihn um, woran der Vater gestorben ist. Warum befand sich in seiner Speiseröhre ein 4 mal 6 Zentimeter großes Stück Käse? Während mal von Herzversagen, mal von Lungenentzündung die Rede ist, versteckt sich die 85jährige Mutter hinter einer Totalamnesie und schweigt.

Jepsens Roman erinnert an Lars von Triers Film "Das Fest". Nur dass sein Tribunal von einem kleinlauten, schleppenden Erzählen begleitet ist. Dabei kommen ganz nebenbei die ungeheuerlichsten Tatbestände zur Sprache: Missbrauch, Psychoterror, Verrat und Mord. Der dänische Autor beherrscht die Kunst des Beiseitesprechens. Jeder Versuch, sich mitzuteilen, missglückt. Das Sprechen selbst wird zum Delikt. Zudem werden in Jepsens auf Hochtouren rotierendem Karussell unaufhörlich die Plätze getauscht, so dass zwischen Tätern und Opfern nicht mehr zu unterscheiden ist. Jeder ist schuldig oder auch nicht.

"Mit freundlicher Anteilnahme" ist ein Roman, der nicht allein von der Groteske lebt, sondern in dem erstmals auch elegische Tonlagen angestimmt werden. Der mysteriöse Tod des kranken Tyrannen löst reichlich Wut und verzweifelte Trauer aus. Sein tatsächliches Erbe lässt sich anhand der Habseligkeiten, die an ihn erinnern – Brille, Milchmannkäppi, Jagdgewehr – lediglich ahnen.

Besprochen von Carola Wiemers

Erling Jepsen, Mit freundlicher Anteilnahme. Roman
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg
Suhrkamp Nova Berlin, 2011
269 Seiten, 12,95 Euro
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