Schwere Entscheidungen und schwere Trennungen
Eine junge Frau erforscht ihre Familienvergangenheit und stößt dabei auf ein lange gehütetes Geheimnis: Ihr Großvater war im II. Weltkrieg Kollaborateur in Malaysia und wurde von den Japanern erschossen. Die Figuren in Madeleine Thiens Roman "Jene Sehnsucht nach Gewissheit" reisen um die halbe Erde, um schmerzliche Wahrheiten, aber auch unbedingte Liebe zu erfahren.
Man erfährt es sofort: Gail, die Geliebte ist nicht mehr. Völlig überraschend und unerwartet starb sie jung während einer Reportage-Reise. Ihr Freund Ansel, ein Arzt in einem Krankenhaus in Vancouver hat Mühe, ihren Tod zu akzeptieren. Zwar geht er jeden Tag zur Arbeit, doch das Leben scheint ihm leer, sinnlos, freudlos. Er kann einfach nicht begreifen, dass seine große Liebe unwiderruflich ausgelöscht ist.
Dabei hatte es noch kurz vor ihrem unverhofften Tod eine große Beziehungskrise gegeben. Ansel war fremdgegangen. Doch die Affäre war beendet. Langsam näherten sich beide wieder einander an. Umso mehr vermisst er sie jetzt. Stundenlang hört sich Ansel ihre Interviewbänder an, sucht im Klang ihrer Stimme Erlösung von seiner übergroßen Sehnsucht und Trauer. Er hält zudem engen Kontakt zu Gails Eltern, einem chinesisch-malaiischen Immigrantenpaar, die nach dem Krieg nach Kanada kam, sich eine neue Existenz aufbaute.
Parallel zueinander erzählt Madeleine Thien eigentlich zwei große Geschichten: die des jungen Arztes Ansel und seiner Freundin Gail sowie die Geschichte ihrer Mutter Clara und ihres Vaters Matthew. Er hat ein wohl gehütetes Geheimnis, dem sich der Roman langsam annähert. Sein Vater hatte während des 2. Weltkrieges mit den Japanern zusammengearbeitet, nachdem diese Britisch Nordborneo, das heutige Malaysia, okkupiert hatten. Die Kollaboration kostet ihn in den letzten Kriegsstunden das Leben. Die Japaner töten ihn, kurz bevor sie fliehen.
Der junge Matthew muss miterleben, wie sein Vater erschossen wird. Doch das ist nicht der einzige schwere Verlust. Er verliert auch noch seine große Jugendliebe Ani. Als Sohn eines Kollaborateurs hat er in seiner Heimat keine Zukunft. Ani erkennt das rascher als er und verlässt ihn, flieht vor ihm nach Jakarta, obwohl es ihr unendlich schwer fällt.
Matthew wandert nach Australien aus und trifft dort Clara, eine aus China stammende Studentin. Und doch wird er als erwachsener Mann, bereits verheiratet und Vater geworden, noch einmal aufbrechen, um endlich darüber Gewissheit zu erlangen, was damals wirklich geschah. "Certainty" heißt der Roman denn auch im Original. Matthew trifft seine Jugendliebe wieder und erfährt, dass er einen Sohn hat, den sie damals von ihm empfing, ohne es ihm zu sagen. Nun fällt auch er eine Entscheidung, gibt Ani frei, die inzwischen einen Holländer lieben gelernt hat.
Es sind schwere Entscheidungen und schwere Trennungen, von denen Madeleine Thien in ihrem Debüt-Roman erzählt. Statt des großen Glücks, der alles überstrahlenden Liebe finden ihre Protagonisten das kleine Glück des gemeinsamen Alltags, der geteilten Freuden und Sorgen, der Zufriedenheit. Sie alle erleiden einen großen Verlust und finden doch zurück ins Leben. Was bleibt, ist die Sehnsucht.
Die 32-jährige kanadische Schriftstellerin Madeleine Thien hat für ihren Roman viele Elemente aus der eigenen Familiengeschichte benutzt. Ihr malaiischer Großvater war tatsächlich Kollaborateur und wurde von den Japanern kurz vor Kriegsende erschossen - lange ein schmerzliches Familiengeheimnis. Ihre malaysisch-chinesische Mutter starb, als sie den Roman schrieb. Wahrscheinlich empfindet man beim Lesen darum den Verlust so intensiv, den Ansel erleidet, als Gail überraschend stirbt. Man spürt geradezu seine Unfähigkeit, den Verlust zu akzeptieren.
Eben dieses zeichnet den Roman aus: seine Empfindsamkeit, seine vorsichtige Erkundung großer Gefühle, seine Wahrhaftigkeit. Nichts wirkt übertrieben. Die Größe ihrer Figuren liegt nicht zuletzt darin, wie sie ihr Schicksal annehmen. Eine bitter-schöne Familiengeschichte.
Rezensiert von Johannes Kaiser
Madeleine Thien: Jene Sehnsucht nach Gewissheit
Übersetzt von Almuth Carstens
Luchterhand Verlag München 2007
303 Seiten, 19.95 Euro
Dabei hatte es noch kurz vor ihrem unverhofften Tod eine große Beziehungskrise gegeben. Ansel war fremdgegangen. Doch die Affäre war beendet. Langsam näherten sich beide wieder einander an. Umso mehr vermisst er sie jetzt. Stundenlang hört sich Ansel ihre Interviewbänder an, sucht im Klang ihrer Stimme Erlösung von seiner übergroßen Sehnsucht und Trauer. Er hält zudem engen Kontakt zu Gails Eltern, einem chinesisch-malaiischen Immigrantenpaar, die nach dem Krieg nach Kanada kam, sich eine neue Existenz aufbaute.
Parallel zueinander erzählt Madeleine Thien eigentlich zwei große Geschichten: die des jungen Arztes Ansel und seiner Freundin Gail sowie die Geschichte ihrer Mutter Clara und ihres Vaters Matthew. Er hat ein wohl gehütetes Geheimnis, dem sich der Roman langsam annähert. Sein Vater hatte während des 2. Weltkrieges mit den Japanern zusammengearbeitet, nachdem diese Britisch Nordborneo, das heutige Malaysia, okkupiert hatten. Die Kollaboration kostet ihn in den letzten Kriegsstunden das Leben. Die Japaner töten ihn, kurz bevor sie fliehen.
Der junge Matthew muss miterleben, wie sein Vater erschossen wird. Doch das ist nicht der einzige schwere Verlust. Er verliert auch noch seine große Jugendliebe Ani. Als Sohn eines Kollaborateurs hat er in seiner Heimat keine Zukunft. Ani erkennt das rascher als er und verlässt ihn, flieht vor ihm nach Jakarta, obwohl es ihr unendlich schwer fällt.
Matthew wandert nach Australien aus und trifft dort Clara, eine aus China stammende Studentin. Und doch wird er als erwachsener Mann, bereits verheiratet und Vater geworden, noch einmal aufbrechen, um endlich darüber Gewissheit zu erlangen, was damals wirklich geschah. "Certainty" heißt der Roman denn auch im Original. Matthew trifft seine Jugendliebe wieder und erfährt, dass er einen Sohn hat, den sie damals von ihm empfing, ohne es ihm zu sagen. Nun fällt auch er eine Entscheidung, gibt Ani frei, die inzwischen einen Holländer lieben gelernt hat.
Es sind schwere Entscheidungen und schwere Trennungen, von denen Madeleine Thien in ihrem Debüt-Roman erzählt. Statt des großen Glücks, der alles überstrahlenden Liebe finden ihre Protagonisten das kleine Glück des gemeinsamen Alltags, der geteilten Freuden und Sorgen, der Zufriedenheit. Sie alle erleiden einen großen Verlust und finden doch zurück ins Leben. Was bleibt, ist die Sehnsucht.
Die 32-jährige kanadische Schriftstellerin Madeleine Thien hat für ihren Roman viele Elemente aus der eigenen Familiengeschichte benutzt. Ihr malaiischer Großvater war tatsächlich Kollaborateur und wurde von den Japanern kurz vor Kriegsende erschossen - lange ein schmerzliches Familiengeheimnis. Ihre malaysisch-chinesische Mutter starb, als sie den Roman schrieb. Wahrscheinlich empfindet man beim Lesen darum den Verlust so intensiv, den Ansel erleidet, als Gail überraschend stirbt. Man spürt geradezu seine Unfähigkeit, den Verlust zu akzeptieren.
Eben dieses zeichnet den Roman aus: seine Empfindsamkeit, seine vorsichtige Erkundung großer Gefühle, seine Wahrhaftigkeit. Nichts wirkt übertrieben. Die Größe ihrer Figuren liegt nicht zuletzt darin, wie sie ihr Schicksal annehmen. Eine bitter-schöne Familiengeschichte.
Rezensiert von Johannes Kaiser
Madeleine Thien: Jene Sehnsucht nach Gewissheit
Übersetzt von Almuth Carstens
Luchterhand Verlag München 2007
303 Seiten, 19.95 Euro