Fehlende Pädagogen

„Die Klassen zu vergrößern, verschärft den Lehrermangel“

07:42 Minuten
Stapel alter Holzstühle in einer Schule, die auf einem blauen Linoleumboden an einer Wand stehen.
Spielräume bei der Klassengröße sehe er nur nach unten, sagt Schulleiter Andreas Niessen. © picture alliance / imageBROKER / Hans Lippert
Andreas Niessen im Gepräch mit Ute Welty · 25.06.2022
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Andreas Niessen, Gesamtschulleiter in NRW, widerspricht Bildungsforscherin Petra Buchwald, die sagt, Schulklassen könnten deutlich größer sein als heute. Das würde, zumindest nach seiner Erfahrung, weitere Lehrkräfte vertreiben. Und Bildung verhindern.
Angesichts des Lehrermangels könnten Schulklassen in Deutschland auch deutlich größer sein als aktuell, sagte Bildungsforscherin Petra Buchwald. Derzeit umfassten die Klassen im Durchschnitt ungefähr 20 Kinder. „Das ist extrem komfortabel“, so Buchwald.
„Es gibt viele Untersuchungen, die sagen, die Klassengröße ist eigentlich für die Bildung nicht so erheblich, wie man das manchmal meint.“ Wenn von Personalknappheit die Rede sei, müssten „wir das auch immer vor dem Hintergrund stehen: Wir haben kleine Gruppen, die wir unterrichten.“

Mehr Schüler in Ballungszentren

Andreas Niessen ist da ganz anderer Meinung. Er leitet die Helios-Gesamtschule in Köln. Die Schule bildet viele Lehrerinnen und Lehrer aus und setzt Inklusion um. Die Bemessungsgröße, die Frau Buchwald nennt – im Durchschnitt 20 Kinder pro Klasse –, könne er „so nicht nachvollziehen“.
„Zumindest aus der Statistik im neuen Bildungsbericht heißt es, wir haben durchschnittliche Klassengrößen von 23 bis 24.“ In den Ballungszentren sei es noch einmal anders. „An unserer Schule haben wir grundsätzlich im inklusiven Lernen die Klassengröße von 27.“
Die Gymnasien in Köln lägen, weil es Schulplatzmangel gebe, oft bei 32, 33 Schülerinnen und Schülern, erklärt Niessen.

„Von einer komfortablen Situation kann meiner Ansicht nach zumindest aus meiner Erfahrung und aus meinem Erfahrungsbereich hier in Köln und in Nordrhein-Westfalen, nicht die Rede sein.“

Spielräume sehe er nur nach unten, sagt der Schulleiter am ersten Sommerferientag in seinem Bundesland. „Wenn ich gestern am letzten Schultag in meinem Team gesagt hätte, wir legen übrigens Klassen zusammen und machen die Klassen noch größer, die hätten wahrscheinlich reihenweise gekündigt.“ Aus seiner Sicht sei das „eine ziemlich absurde Diskussion“.

Gute Betreuung ist in großen Klassen schwerer

Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt auch Birgit Lütje-Klose, Professorin für schulische Inklusion an der Universität Bielefeld und Beraterin der Kultusminister-Konferenz . Der Mangel an Lehrkräften beziehe sich auf bestimmte besonders belastete Bereiche wie die Ballungsräume oder auch die Grundschulen, so Lütje-Klose. "Und gerade dort ist dieser Vorschlag, die Klassengröße zu erhöhen, wirklich kontraproduktiv."
Es gebe zwar internationale Untersuchungen, wonach die Qualität des Unterrichts und die Klassengröße nicht zwingend zusammenhingen. In großen Klassen sei es aber viel schwieriger, eine individuelle Unterstützung auf hohem Niveau herzustellen. Besonders für Kinder mit Beeinträchtigungen oder Lernschwierigkeiten sei das ein "ganz großes Hindernis".

Metallhandwerker an die Schulen!

Um dem Personalmangel zu begegnen, der sich auch an seiner Schule bemerkbar mache, müsse nach anderen Lösungen gesucht werden, schlägt Schulleiter Niessen aus Köln vor. Moderne Schule könne nicht mehr allein mit Lehrerinnen und Lehrern gemacht werden. „Die Bedarfe der Kinder und Jugendlichen sind sehr vielfältig.“
Deshalb heiße es: „Holt anderes pädagogisches Personal, aber auch nicht-pädagogisches Personal an die Schule, um die Arbeit der Lehrkräfte nicht nur zu unterstützen, sondern sich mit den Lehrkräften zusammen auf Augenhöhe um die Belange der Kinder und Jugendlichen zu kümmern!“
Da brauche es etwa so klassische Berufe wie Sozialpädagoginnen und Schulsozialarbeiter – die allerdings auch fehlten. Deshalb müsse man „die Kreise noch ein bisschen weiter ziehen“, erklärt Niessen. Er meine damit Menschen aus anderen Berufen, die über einen Seiteneinstieg kämen. „Ich hatte zum Beispiel ein Gespräch mit einem Metallhandwerker, der großes Interesse hat, über den Seiteneinstieg zu uns zu kommen.“
Ein Vorschlag, der auch aus Sicht von Birgit Lütje-Klose Sinn macht. So etwas wie eine Assistenz gebe es bislang nicht in Deutschland. "Aber das ist etwas, was in anderen Ländern durchaus funktioniert."

Mehr als schnell abrufbares Wissen

Die Voraussetzung dafür sei aber, so wiederum Niessen, Schule und Unterricht anders zu denken, „dass wir uns öffnen, dass wir mit viel vielfältigeren Formen des Lernens arbeiten“. Da könne es auch mal sein, dass man zwei Klassen zusammenlegt und einen Vortrag oder eine Videoinstallation mit 50 oder 75 Kindern oder Jugendlichen mache. „Aber auf der anderen Seite braucht man auch mal ganz kleine Gruppen, um die nach der Pandemie so wichtige Beziehungs- und Erziehungsarbeit in der Schule zu leisten.“
Zu Studien darüber, dass guter Unterricht auch mit 40 Schülerinnen und Schülern funktionieren könne, sagt Niessen: „Bestimmte Form von Unterricht mögen vielleicht so gehen, auch mit bestimmten Populationen von Schülerinnen und Schülern.“ Zudem bezögen sich Studien meist auf die Frage nach einem Lernerfolg beim schnell abrufbaren Wissen.
Bei Schule gehe es aber um Bildung, um das Lernen von Soft Skills für das Zusammenleben. „Man muss sehen, dass Kinder und Jugendlichen heute unglaublich viele Bedarfe mit in die Schule bringen. Die müssen lernen, überhaupt erst mal miteinander klarzukommen, Regeln verstehen zu können und umsetzen zu können.“

"Die Lehrkräfte sind auf der Felge"

Auch seien die Lerngruppen selbst im gegliederten Schulsystem „deutlich heterogener, als das früher der Fall war“. Das bedeute, dass Lehrkräfte oder Pädagogen sehr individuell auf die Bedarfe der einzelnen Kinder eingehen müssten.
Letztlich sei die Reduzierung der Klassengrößen auch aus Sicht der Lehrergesundheit eine sehr wichtige Frage. „Wir kommen aus der Pandemie, und ich sehe das an meiner, aber auch an vielen anderen Schule: Die Lehrkräfte sind wirklich auf der Felge.“
Ihnen noch mehr Belastungen zuzumuten, vergrößere das Problem des Lehrermangels wahrscheinlich noch. Im Gegenteil müsse der Beruf wieder attraktiver gemacht werden. „Das heißt auch, dass ich diesen Beruf, diesen anspruchsvollen Beruf auch gesund ausüben können muss.“

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