Ich bin schüchtern. Und es liegt in der Natur der Sache, dass mich selbst ein solch unspektakuläres Bekenntnis bereits einige Überwindung kostet. Wenn mich jemand auf der Straße anrempelt, entschuldige ich mich natürlich. Wenn ich das Gefühl habe, beobachtet zu werden, weiß ich nicht, wo ich hinschauen soll.
Zum Glück schaue ich meist sowieso auf den Boden, wo die Gefahr, dem Blick eines anderen Menschen zu begegnen, relativ gering ist – außer auf der Liegewiese eines Freibads oder am Strand: zwei Orte, die für Schüchterne allerdings noch ganz andere Probleme bereithalten.
Schüchtern in allen Lebenslagen
Meine Pullover haben alle eine Kapuze, unter der ich mich verstecken kann, und beim Schlafen ziehe ich die Bettdecke über den Kopf, weil ich Angst habe, dass ich von Geistern oder Einbrechern angesprochen werden könnte.
Für das Verfassen von E-Mails brauche ich immer unverhältnismäßig lang, da ich aus Furcht, den Empfänger durch unbedachte Wortwahl zu verletzen, selbst bei unwichtigen Mails an den Formulierungen feile, als handelte es sich um einen Beitrag zum Jahrbuch der Deutschen Lyrik.
Es fehlt nicht viel, und ich würde auch auf Spammails freundliche Absagen verschicken. „Herzlichen Dank für Ihr ebenso attraktives wie wohlfeiles Angebot. Aber bevor ich ein solches Medikament benötige, bräuchte ich erst eines gegen Schüchternheit“, zum Beispiel.
Wenn mich ein Zauberkünstler im Rahmen einer Vorführung als Demonstrationsobjekt auf die Bühne holte, würde ich mich umgehend und ohne Zutun des Magiers in einen Hasen verwandeln.
Und wenn ich den berühmten „FAZ“-Fragebogen beantworten müsste, dann stünde bei mir in der Rubrik „Ihre Lieblingshelden in der Dichtung“ der Mann aus Kafkas Türhüter-Legende, der sein ganzes Leben neben einer offenen Tür sitzt und schüchtern darauf wartet, dass man ihm Einlass gewährt, ganz oben.
Viele Menschen „leiden“ unter Schüchternheit
Umfragen zufolge leidet jeder fünfte Bundesbürger unter Schüchternheit, in den USA bezeichnen sich 42 Prozent der Bevölkerung als schüchtern, in Japan wollen es sogar 57 Prozent sein.
Die Sozialphobie, also die schwere, pathologische Form der Schüchternheit, stellt nach Depressionen und Alkoholabhängigkeit inzwischen die dritthäufigste Form der psychischen Erkrankung in der westlichen Welt dar.
Aber, Moment mal: Schüchternheit? Sozialphobie? Dritthäufigste Erkrankung? Leben wir nicht, ganz im Gegenteil, mittlerweile in einer Welt der Schamlosigkeit und der Selbstdarstellung?
Sind wir nicht allesamt, um eine Formulierung von Richard Sennett aufzugreifen, Händlerinnen und Händler auf dem großen „Markt der Selbstoffenbarungen“: Auf digitalen oder analogen Foren und Plattformen also, wo das eigene Ich das höchste Gut und die Aufmerksamkeit der anderen die wichtigste Währung darstellt?
Kehren wir nicht in sozialen Netzwerken, auf Youtube oder Youporn, in Podcasts und Privatfernsehsendungen Tag für Tag unser Innerstes nach außen? Wie geht das alles mit der angeblichen Konjunktur der Schüchternheit zusammen?
Was genau meint Schüchternheit?
Vielleicht muss man dazu zuerst einmal definieren, was Schüchternheit überhaupt ist. Befragt man Synonymwörterbücher wie den „Textor“ oder das „Wörterbuch der deutschen Sprache“ von den Brüdern Grimm, stößt man auf einen ganzen Schwarm von Begriffen: Verlegenheit, Scham, Scheu, Bammel, Hemmung, Befangenheit, Bescheidenheit, Blödigkeit, Feigheit, Furcht vor Misserfolg, Missachtung, Missdeutung.
Sie wirken teils wertneutral, teils negativ und sind manchmal positiv besetzt. Auf jeden Fall aber haben sie extrem unterschiedliche Bedeutungen.
Während der Ausdruck „Scham“ etwa klar christlich konnotiert ist und eine allgemein-menschliche Disposition beschreibt, klingt „Scheu“ eher nach dem Fluchtverhalten eines Wildtiers, während „Feigheit“ eine menschliche Eigenschaft bezeichnet, die im Militär sogar mit dem Tode bestraft werden konnte.
Angst spielt eine Rolle
Es gibt allerdings einen semantischen Kern, der all diese Begriffe verbindet und das ist das Gefühl der Angst. Der amerikanische Psychologe Philip Zimbardo ist Begründer der Shyness Clinic an der Universität Stanford.
Er definiert die Schüchternheit entsprechend als:
„Angst vor Menschen, die aus irgendwelchen Gründen als emotionale Bedrohung empfunden werden: Fremde, weil man sie nicht kennt und nicht einschätzen kann; Autoritätspersonen, weil sie Macht ausüben; Angehörige des anderen Geschlechts, weil man mit ihnen intime Begegnungen haben könnte.“
An dieser Definition ist zweierlei interessant. Erstens: Es geht bei der Schüchternheit ganz zentral um den sozialen Status, um berufliche und gesellschaftliche Machtverhältnisse – hierzu später mehr. Und zweitens: Der Begriff ist, wie so viele andere auch, klar gegendert. Es macht also einen wesentlichen Unterschied, ob man sich als Mann oder als Frau schüchtern verhält oder Schamangst empfindet.
Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang mit Grausen an meine Jugend in den 80er- Jahren, an peinigende Nachmittage in der Tanzschule, wo doch tatsächlich erwartet wurde, dass man nach alter Väter Sitte als Junge ein Mädchen zum Tanzen auffordert.
Natürlich blieb ich immer brav sitzen, bis alle potenziellen Partnerinnen vergeben waren: Nicht bloß aus Schüchternheit, wie ich mir heute einrede, nein: auch aus Protest gegen diese altbacken-patriarchale Rollenverteilung.
Eine genderspezifische Betrachtungsweise
Obwohl sich an solch klischierten Rollenzuweisungen zum Glück einiges geändert hat, halten sich doch hartnäckig gewisse Grundannahmen über den „natürlichen Charakter des Mannes“ beziehungsweise „der Frau“.
Klassiker der traditionellen Rollenzuweisungen: Auch Florian Wener erinnert sich an an peinigende Nachmittage in der Tanzschule.© picture-alliance / dpa
So adressieren beispielsweise Clips und Anzeigen, mit denen in den USA noch bis in die Nullerjahre Medikamente gegen soziale Angststörungen beworben wurden, vollkommen unterschiedliche Problemzonen — je nachdem, ob sich die Kampagne an eine männliche oder weibliche Zielgruppe richtet.
Zeigen die Werbebilder einen Mann, erzählen die Begleittexte von beruflichen Misserfolgen oder verpassten Beförderungen. Zeigen sie hingegen eine Frau, schildern die Werbetexte private Probleme: Die Adressatin dieser Anzeigen ist die unglückliche Hausfrau, die zu Hause die Blümchentapete anstarrt, während sie darauf wartet, dass endlich der Mann aus dem Büro nach Hause kommt.
Die Frage, wer in welchen Situationen als schüchtern gilt, sagt also viel über die sozialen Rollenerwartungen, die Männern und Frauen sowohl im Berufsleben als auch im Alltag entgegengebracht werden: Die Schüchternheit, beziehungsweise der Umgang mit ihr, wäre mithin ein Gradmesser für die Gleichheit und Offenheit einer Gesellschaft.
Gefühle keine anthropologischen Konstanten
Dazu muss man wissen, dass es sich bei Gefühlen wie Scham, Schüchternheit oder Sozialangst keineswegs um anthropologische Konstanten handelt, sondern dass sie im Lauf der biologischen und sozialen Evolution Entwicklungen sowie wechselnden Konjunkturen unterworfen waren.
Die Historikerin Ute Frevert beschreibt es so:
„Gefühle verändern sich in Ausdruck, Objekt und Bewertung. Selbst wenn Affektprogramme in allen Lebewesen genetisch-biologisch angelegt wären, kommt es darauf an, wie sie aktiviert werden, durch welche Wahrnehmungen und Interpretationen.“
Anders formuliert: Der Mensch mag zwar schon seit Urzeiten dazu befähigt sein, sich seiner selbst oder seines Verhaltens zu schämen. Aber ob und in welcher Form diese Disposition zutage tritt, ob sie als ehrbar oder feige gilt, ob sie nach Leibeskräften unterdrückt oder gar, ganz im Gegenteil, kultiviert wird: Das alles hängt von den wechselnden sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen ab.
Kennzeichen der gesellschaftlichen Gegenwart
Die Schüchternheit, könnte man sagen, ist in diesem Sinne ein spezifisch modernes Gefühl und die bedeutende Rolle, die ihr zugewiesen wird, sagt weniger über die Schüchternen aus, als vielmehr über unsere gesellschaftliche Gegenwart.
Vier große Veränderungen mögen zum Entstehen der Schüchternheit, wie wir sie kennen, zu Beginn der Moderne beigetragen haben. Erstens, ganz grundsätzlich: Damit man Angst vor der negativen Bewertung durch andere Menschen haben kann, muss man sich logischerweise erst einmal als eigenständige Person wahrnehmen.
Oder wie es der Soziologe Georg Simmel formuliert:
„Wenn die Betonung des Ichs die eigentliche Voraussetzung alles Beschämtseins ist, so bedarf es dazu eines Fürsichseins, einer Selbständigkeit dieses Ichs. Nur das ganz selbständige, für sich verantwortliche Ich gibt den Rahmen ab, innerhalb dessen die Betonung und die Herabsetzung seiner selbst in jene charakteristische Reibung miteinander treten können.“
Die Schamvermeidungsängste, die wir als Schüchternheit bezeichnen, wären für einen vormodernen Menschen vermutlich nur schwer vorstellbar gewesen. Erst als der Mensch begann, sich klar von seiner Umwelt abzugrenzen, konnte er sich in dem Gedanken verbeißen, dass er von ebendieser Umwelt kritisch beäugt oder negativ beurteilt werden könnte.
Begleiterscheinung der Individualisierung
Anders gesagt: Schüchternheit setzt – nur scheinbar paradox – einen enormen Glauben an die Bedeutung der eigenen Individualität voraus. Dass sie gerade heute, im Zeitalter der Ich-Besessenheit und des Singularitätskults, zunehmend zum Problem zu werden droht, muss vor diesem Hintergrund nur folgerichtig erscheinen.
Zweitens: Schüchternheit ist, böse gesagt, ein Luxusproblem. Folgt man dem Soziologen Norbert Elias, so ist das Anwachsen der Scham- und Peinlichkeitsschwellen seit dem 16. Jahrhundert nämlich nicht zuletzt das Ergebnis des „Prozesses der Zivilisation“.
Erst als der Alltag für den frühneuzeitlichen Menschen nicht mehr permanent lebensbedrohliche Situationen bereithielt, konnte sich die Sensibilität für den zwischenmenschlichen Umgang verfeinern. Eine eigentlich erfreuliche Entwicklung.
Allerdings nahm damit auch die Sorge zu, andere durch anstößiges, vermeintlich „unzivilisiertes“ Verhalten zu verletzen. Die Angst, die früher von konkreten äußeren Gefahren ausgelöst wurde, wurde also zunehmend internalisiert.
Norbert Elias formuliert es so:
„Nun verstärken sich proportional zur Abnahme der äußeren die inneren Ängste. Nun wird ein ganzer Teil der Spannungen, die ehemals unmittelbar im Kampf zwischen Mensch und Mensch zum Austrag kamen, als innere Spannung im Kampf des Einzelnen mit sich selbst bewältigt. Die Gefahrenzone geht jetzt gewissermaßen quer durch die Seele aller Individuen hin.“
Leben mit der „Gefahrenzone“
Der aktuelle Krieg in der Ukraine stellt erkennbar einen Bruch oder zumindest eine dramatische Verwerfung innerhalb dieses von Elias beschriebenen Zivilisationsprozesses dar. Er beendet nicht nur eine lange Phase des Friedens in Mitteleuropa. Er zeigt auch, dass psychogenetische Entwicklungen weder unumkehrbar noch umfassend sind.
Während sich ein Teil der europäischen Bevölkerung gegenwärtig in einer konkreten, lebensbedrohlichen „Gefahrenzone“ befindet, kann sich ein anderer Teil weiterhin den zivilisatorischen Luxus innerer Konflikte leisten: Er kann, um eine Formulierung des Philosophen Robert Pfaller aufzugreifen, seine Scham weiterhin „selbstbewusst zur Schau“ tragen – „wie früher eine exklusive Armbanduhr oder eine teure Handtasche“.
Ein dritter Aspekt, welcher die Entstehung der Schüchternheit bedingt haben mag: Die Auffassung, welches Verhalten als schüchtern gilt und wie es zu bewerten ist, ist untrennbar mit der ihm zugrunde liegenden Gesellschaftsform verbunden. Konkret: In vormodernen Zeiten herrschten noch Standesgrenzen.
Wer in eine bestimmte soziale Schicht hineingeboren wurde, hatte wenig Möglichkeit, diese nach oben hin zu durchbrechen — er hatte dadurch aber auch weniger Möglichkeiten zu gesellschaftlichen Fauxpas: Man kannte seine Sphäre und die dort geltenden Regeln.
Erst in der Moderne, mit zunehmender gesellschaftlicher Mobilität, wurde die soziale Beschämung zum ernsthaften Problem: Jederzeit musste der soziale Aufsteiger befürchten, sich vor den Angehörigen höherer Schichten zu blamieren, da er seinen Habitus nicht ablegen konnte.
Scham und Klassenbewusstsein
Bezeichnenderweise kam es gerade in der klassenbewussten englischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts erstmals zu epidemischen Ausbrüchen von „shyness“, da viele Aufsteiger in stetiger Angst davor lebten, sich durch ihren Lower-Class-Akzent zu verraten.
Suchte man in der Literaturgeschichte jener Zeit nach einem von solcher Befangenheit Betroffenen, so würde man auf den aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Anton Reiser aus dem gleichnamigen Roman von Karl Philipp Moritz treffen.
„Etliche Leute gehen als ‚Ladies’ oder ‚Gentlemen’ durch, solange sie nur nicht den Mund aufmachen − wenn sie es dann doch tun, zeigt sich ihre wahre Herkunft.“
Suchte man in der Literaturgeschichte jener Zeit nach einem von solcher Befangenheit Betroffenen, so würde man auf den aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Anton Reiser aus dem gleichnamigen Roman von Karl Philipp Moritz treffen. Bei den Versuchen, über seinen Stand hinauszukommen, befindet sich Reiser in ständiger, heute würde man sagen: neurotischer Furcht vor Beschämung.
Bezeichnenderweise findet diese Angst stets dann ihre schlimmste Bestätigung, wenn der Protagonist mit Angehörigen höherer Schichten, etwa seinen elegant gekleideten Mitschülern zu tun hat.
„Die Furcht, in einem lächerlichen Lichte zu erscheinen, war bei Reisern zuweilen so entsetzlich, dass er alles, selbst sein Leben, würde aufgeopfert haben, um dies zu vermeiden. Der Rock gab ihm ein lächerliches Ansehen, weil er ihm zu kurz geworden war. Dies fühlte er selbst, und der Umstand trug sehr viel zu der Schüchternheit in seinem Wesen bei.“
Eine Kehrseite der Demokratisierung
In gewisser Weise stellt die Erfahrung der Schüchternheit also eine Kehrseite der Demokratisierung dar, wie sie sich seit Beginn der Moderne in westlichen Gesellschaften vollzogen hat.
Ja, man könnte sogar vermuten, dass die Schüchternheit proportional zur gesellschaftlichen Durchlässigkeit zunimmt: Je größer die sozialen Aufstiegschancen sind, je weiter und vielfältiger die Kreise, in denen wir uns bewegen — desto zahlreicher werden auch die Gelegenheiten, sich gesellschaftlich zu blamieren.
Der Journalist Ulrich Greiner erklärt es so:
„Stände und Klassen in der alten Weise gibt es nicht mehr, aber man täusche sich nicht: Die Systeme der Ausgrenzung sind feiner geworden. Als Steuerzahler, Radfahrer, Katholik, Tourist, Arbeitnehmer muss ich jeweils anderen Erwartungen, anderen ungeschriebenen Regeln folgen. Nirgends mehr kann ich mich vollkommen sicher fühlen, die Situationen und Anforderungen ändern sich schneller als das Wetter.“
Auch mir sind solche situationsbedingten Unsicherheitsgefühle innig vertraut: Befinde ich mich auf vertrautem sozialem Terrain, fühle ich mich pudelwohl — aber auf gesellschaftliche Wetterumschwünge reagiere ich hypersensibel.
Wenn ich etwa mit meinem Sohn auf einem Spielplatz herumtolle, mich dann aber plötzlich als Autor zu irgendeiner noch so einfachen literaturwissenschaftlichen Frage äußern soll, fällt mir der Rollenwechsel unfassbar schwer. Ich stehe im kommunikativen Regen, sprachlos, starr – wie ein begossener Pudel.
Schriftlichkeit befördert Schüchternheit
Womit wir zur vierten und letzten Zutat kommen, die das Entstehen der modernen Schüchternheit erklären kann — und die, wenn nicht deren Linderung, so doch zumindest einen Rückzugsort vor ihr verspricht: Ich meine die Schriftlichkeit.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstand bekanntlich nicht nur der Roman, sondern auch eine flächendeckende Tagebuch- und Briefkultur – ein Vorläufer zu heutigen Phänomen wie Blogs, E-Mails, Kurznachrichten oder Statusmeldungen in sozialen Netzwerken. Wohl nie zuvor war so intensiv über das emotionale Vermögen des Menschen nachgedacht worden wie zu Beginn der Moderne, im Zeitalter der Empfindsamkeit.
Das Ohr fest an den eigenen Brustkorb gepresst, klopfte der Sentimentalist sein Innerstes auf Erschütterungen oder Schwingungen ab, und legte in Tagebüchern, Briefen und autobiografischen Schriften Zeugnis darüber ab, was er dort vorfand. Und in dem Maß, in dem er seine Empfindungen beobachtete und niederschrieb, nahm auch sein Selbstgefühl zu.
Der Soziologe Andreas Reckwitz schreibt:
„Eine materiale Voraussetzung der frühbürgerlichen Emotionalisierung als Psychologisierung liefert die Technologie der Schriftlichkeit. Sowohl das Lesen wie das Schreiben von Briefen trainieren das bürgerliche Subjekt in der permanenten Selbstbeobachtung, der Wahrnehmung und Reflexion seiner vermeintlichen und damit immer auch produzierten ‚Innenwelt‘ von Gedanken, Gefühlen oder Erinnerungen, somit in der Herausbildung einer raffinierten Emotionalität des Ichs.“
Man könnte also sagen: Die Literarisierung der bürgerlichen Gesellschaft und die mit ihr einhergehende Begeisterung für das eigene Gefühlsleben prägten entscheidend unsere moderne Gefühlssemantik und damit auch unser Schüchternheitsempfinden.
Die Spätfolgen sind heute zu besichtigen: Die Möglichkeiten, sich in Schrift, Bild und Ton detailliert zum eigenen Befinden zu äußern, sind größer und verbreiteter als je zuvor. Zugleich erleben wir eine nicht gekannte Konjunktur der Schüchternheit sowie der sozialen Angststörungen.
Der sozialängstliche Mann als Witzfigur
Mittlerweile ist das Bild des von Sozialangst geplagten Mannes zum Klischee geronnen – ja, zur sofort abrufbaren Witzfigur, wie etwa in dem Song „Schüchterner Mike“ von Friedemann Weise aus dem Jahr 2020.
„Mike ist sehr schüchtern, schon als Kind
War er nicht gern, wo die anderen sind
Er versteckte sich da, wo die Schubkarren war’n
So lang, bis er in die Schule kam
Schüchterner Mike
Doch nach Feierabend, da geht er nach Haus
Holt ein Bier aus dem Kühlschrank, macht es auf
Er geht in das Zimmer, wo sein Rechner steht
Das Internet ist, wo er eigentlich lebt,
Keiner weiß da, wo er wirklich heißt
Er nennt sich ganz einfach …“
Aber nicht nur der Schüchterne selbst ist ein Klischee. Auch die Strategien, wie man als Betroffener mit dieser Disposition umgeht, scheinen allgemein bekannt zu sein.
Sozialangst und Suchterkrankungen
Alkohol und Online-Existenz heißen die Zauberformeln, mit denen die Schüchternheit und ihre sozialen Folgen kompensiert werden. Was hier als Scherz präsentiert wird, entbehrt leider nicht eines wahren Kerns: Zwischen Sozialangst und Suchterkrankungen besteht eine „Komorbidität“ — einer amerikanischen Studie zufolge ist beinahe jeder fünfte Sozialphobiker alkoholkrank.
Und: Sozial ängstliche Menschen neigen zu übermäßigem Internetkonsum bis hin zu schwerer psychischer Abhängigkeit. Schüchterne "Internet Addicts" verbringen deutlich mehr Zeit in sozialen Netzwerken als ihre extrovertierten Zeitgenossen, und sie formen dort häufiger enge Freundschaften. Zugleich kann der exzessive Aufenthalt im Internet ebenjene Probleme verstärken, denen die Betroffenen durch ihre Flucht in die Virtualität eigentlich zu entkommen suchten.
Jakob Hein, Berliner Psychiater und Autor, formuliert es so:
„Durch die konkurrierenden Angebote zwischen echter sozialer Interaktion und geschützter sozialer Interaktion (Facebook, Chats, Rollenspiele) nimmt die Trainingszeit ‚echter’ sozialer Interaktion notwendigerweise ab − und damit auch die Kompetenz.“
Fest steht, dass digitale Kommunikationsformen besonders für Schüchterne einen Rückzugsort bieten, der es ihnen erlaubt, sich in gebührender Distanz zu ihren Mitmenschen hinter einem Schutzwall aus Schriftlichkeit zu verstecken. Hinzu kommt: Im Netz ist es nicht nur möglich, sondern sogar üblich, alternative Identitäten anzunehmen; soziale Rollen zu verkörpern, die einem im Alltag ansonsten verwehrt sind.
Rollenspiele kommen Schüchternen entgegen
Gerade dies, das Masken- und Rollenspiel, ist eine Kulturtechnik, die Schüchternen entgegenkommt, auch außerhalb des digitalen Raumes – in der sogenannten Realität.
Alkohol ist eine der "Zauberformeln", mit denen die Schüchternheit und ihre sozialen Folgen kompensiert werden.© imago images / fStop Images / Malte Müller
So berichtet der Kulturwissenschaftler Joe Moran, Professor an der Universität Liverpool:
„Schüchternheit folgt keiner bestimmten Logik: Sie betrifft bestimmte Bereiche meines Lebens, andere aber nicht. Eine Sache, vor der viele Menschen wahnsinnige Angst haben, nämlich einen Vortrag zu halten, fällt mir relativ leicht: Bei einer Vorlesung kann ich einfach eine Rolle spielen und so tun, als wäre ich ein ‚normal‘ funktionierendes menschliches Wesen.
Eine öffentliche Fragerunde ist hingegen ein ganz anderes Kaliber: Da endet die Bühnenperformance und ich bekomme Angst, dass der ganze Schwindel auffliegen könnte: Irgendjemand wird eine unvorhersehbare Frage stellen, und ich werde wie gelähmt dastehen und mich in dem Versuch verheddern, eine Antwort zu formulieren.
Das ist zwar bislang nur sehr selten tatsächlich passiert – aber häufig genug, um meine Fantasie mit entsprechenden Katastrophenszenarien zu versorgen.“
Viele Schüchterne werden sich in dieser Beschreibung wiederfinden. Ich selbst habe beispielsweise kaum Hemmungen, mich auf großer Bühne zum Affen zu machen, solange ich dafür vorbereitet bin und das Affenkostüm gut gebügelt ist. Aber ich bin unfassbar schlecht darin, spontan im kleinen Kreis einen Witz zu erzählen.
Wenn das soziale Skript klar ist, fällt mir die Selbstdarstellung vergleichsweise leicht. Erst in dem Moment, wenn Improvisation, schneller Kostümwechsel oder womöglich „Authentizität“ gefragt sind, wird es schwierig.
Soziale Netzwerke sind Tummelplatz für Schüchterne
Kein Wunder, dass gerade soziale Netzwerke, wo virtuelle Verkleidungsspiele zur Kommunikation wesenhaft dazugehören, ein so beliebter Tummelplatz für Schüchterne sind.
Allerdings muss man hinzufügen: Eine solche Vorliebe für gesellschaftliche Maskeraden ist keineswegs auf Schüchterne beschränkt, sondern Teil des ganz normalen menschlichen Verhaltensrepertoires. „Wir alle spielen Theater“, wie der Titel eines soziologischen Bestsellers von Erving Goffman lautet.
Gerade heute, in der medial überformten Spätmoderne, kommt es bekanntlich immer weniger darauf an, „wahrhaftig“, „authentisch“ oder „echt“ zu sein, sondern vor allem darauf, seine jeweilige Rolle überzeugend zu spielen. Auch die Schüchternheit, könnte man in diesem Sinne hinzufügen, ist weder gut noch schlecht, sondern schlicht alltäglich.
Dass der Kontakt mit fremden Menschen mehr oder weniger stark angstbesetzt ist, sollte eigentlich kaum der Rede wert sein, um noch einmal Joe Moran zu zitieren:
„Schüchternheit ist einfach ein Teil des menschlichen Daseins – und wenn es sie nicht gäbe, wäre die Welt ein deutlich langweiligerer und weniger kreativer Ort. Schüchternheit erinnert uns daran, dass menschliche Kommunikation immer mehrdeutig ist, und dass es darum völlig normal ist, wenn man unsicher ist oder an sich zweifelt – schließlich können wir nicht in den anderen hineinsehen.
Jeder Kommunikationsversuch ist ein Sprung ins Ungewisse, und es gibt keine Garantie, dass wir verstanden werden – ja dass man uns überhaupt zuhört. Wenn man diese unwiderrufliche Tatsache in Betracht zieht, dann ist es absolut verständlich, dass man sich in Gegenwart anderer Menschen eher schüchtern verhält.“
Man sollte die Schüchternheit also nicht übermäßig pathologisieren — oder gar bei zurückhaltendem Betragen übereilt von „Sozialangst“ sprechen.
Mit Schamlosigkeit zum Erfolg
Ja, man könnte den Spieß sogar umdrehen und behaupten, dass gerade die Abwesenheit von Hemmungen ein bedenkliches Anzeichen für eine dysfunktionale Persönlichkeit darstellt: Menschen, denen Gefühle wie Scham oder Schüchternheit fremd sind, fehlt, in den Worten des Psychologen Rowland Miller, ein wichtiger psychischer „Feedback-Mechanismus“, der sie davor bewahren könnte, gesellschaftliche Normen zu verletzen.
Trotzdem werden sie vergleichsweise selten als sozial auffällig oder gar therapiebedürftig diagnostiziert. Womöglich, weil sie einen Gutteil der sogenannten Leistungsträger unserer Gesellschaft stellen: Ohne ein gewisses Maß an Ellenbogenmentalität und Schamlosigkeit wird man es wohl kaum in den Aufsichtsrat eines DAX-Unternehmens oder in eine politische Spitzenposition schaffen.
Dass eine Disposition wie die Schüchternheit als Problem wahrgenommen wird, sagt womöglich mehr über unsere Expositionsgesellschaft und deren Erwartungshaltungen aus als über das davon betroffene Individuum.
Die Soziologin Susie Scott:
„Schüchternheit ist nicht nur ein passiver Zustand, der darin besteht, dass man aus Befangenheit oder Willensschwäche oder sozialer Unerfahrenheit am sozialen Miteinander nicht teilnehmen kann. Man könnte sie auch als subtile, aber wirkungsvolle Form des Widerstands interpretieren.“
Schüchternheit als Form der Systemkritik
Sie interpretiert Schüchternheit entsprechend nicht als individuelles psychisches Defizit, sondern ganz im Gegenteil als Stärke, als Form der Systemkritik. Allerdings kommt diese Kritik, wie sollte es bei zurückhaltenden Menschen anders sein, auf eher leisen Sohlen daher.
Der Schüchterne klagt die gegenwärtige „Casting-Gesellschaft“ und ihre exhibitionistischen Erwartungshaltungen nicht lautstark an, sondern kritisiert sie ganz dezent durch seine schiere Anwesenheit:
„Indem der Schüchterne die stillschweigenden moralischen Übereinkünfte infrage stellt, die unserem täglichen Miteinander zugrunde liegen, problematisiert er die gedankenlose Fortschreibung bestimmter sozialer Muster; er hinterfragt Konzepte, die sonst als selbstverständlich gelten.“
Vielleicht ist es also an der Zeit, sich wieder auf die positiven Seiten der Schüchternheit zu besinnen − oder besser gesagt: auf die positiven Seiten einer Charaktereigenschaft, die im Laufe der Zeit, unter dem Druck der Geschichte, allmählich verstaubt oder verschüttgegangen sind.
Bescheidenheit, Mitleid, Sinn für das rechte Maß, Feingefühl oder Rücksicht, um nur einige zu nennen. Holen wir sie hervor. Stauben wir sie ab. Setzen wir sie wieder ein. Keine falsche Scham. Seien wir ruhig ein bisschen schüchtern.