Schriftstellerin Eva Menasse

Intellektueller Widerspruch im Sturm des Digitalen

11:09 Minuten
Eva Menasse blickt vor dunklem Hintergrund freundlich in die Kamera und trägt einen lila Schal.
Die Online-Überforderung stelle eine Gefahr für die Demokratie dar, sagt die Schriftstellerin Eva Menasse. © imago / Gerhard Leber
Eva Menasse im Gespräch mit Moderator Frank Meyer · 18.06.2019
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Die alte Öffentlichkeit ist zersplittert, ein vollwertiger Ersatz im digitalen Zeitalter aber ist noch nicht in Sicht: Im Gespräch zeigt sich die Schriftstellerin Eva Menasse besorgt über den Zustand gesellschaftlicher Debatte.
Frank Meyer: Der Philosoph Jürgen Habermas wird heute 90 Jahre alt. Er hat das Nachdenken über Gesellschaft und Vernunft so beeinflusst wie wenige andere. Wie sich die Öffentlichkeit in der Gegenwart verändert hat, welche Kräfte, welche Argumente sich durchsetzen - diese Fragen beschäftigen Jürgen Habermas. Wir fragen heute deshalb mit den Ideen von Jürgen Habermas, wie es um die Öffentlichkeit heute steht. Gibt es überhaupt noch eine zwischen Filterblasen und Shitstorms? Oder gibt es vielleicht doch eine viel breitere Öffentlichkeit dank der sozialen Medien? Darüber sprechen wir mit der Schriftstellerin Eva Menasse.

"Wahnsinnig viel Fake around"

Frau Menasse, Sie haben letztens sehr klar gesagt, was Sie vom Zustand der Öffentlichkeit heute halten. Bei Ihrer Ludwig-Börne-Preis-Rede haben Sie unter anderem gesagt, dass sich die Öffentlichkeit gerade komplett auflöst. Wie kommen Sie zu diesem harten Urteil?
Menasse: Das ist die Folge der unser Leben in allen Bereichen durchdringenden Digitalisierung. Wenn Öffentlichkeit durchaus auch im Habermas’schen Sinn bedeutet, dass es Plattformen der gesellschaftlichen Selbstverständigung gibt - also große Schnittmengen dessen, was uns alle betrifft, worüber wir diskutieren, worüber wir reden, wo wir uns vergewissern, was unsere Wünsche auch an die Politik sind -, dann gibt es sie jetzt nicht mehr, weil sich alles exponentiell vervielfacht hat. Es gibt, wie wir wissen, inzwischen eine signifikante Menge an Menschen unter 30, die herkömmliche Medien überhaupt nicht mehr nutzen, sondern sich sämtliche Informationen im Netz besorgen. Und es gibt andererseits – und das ist etwas, was mich in letzter Zeit immer stärker zu interessieren beginnt – die Leute jenseits der 60, die die digitalen Medien zwar nutzen, aber damit nicht zurechtkommen. Es gibt eine große Menge von Menschen, die wahnsinnig verwirrt sind von den Unmengen an Informationen, die sie nicht mehr unterscheiden können. Das sind natürlich nicht nur die älteren Leute, aber viele ältere, die sich vor allem überfordert fühlen und nicht unterscheiden können, was echte Information ist, was Fake News. Wir wissen ja, dass wahnsinnig viel Fake around ist.

"Alles hat sich zerlegt, zersplittert"

Meyer: Jetzt sagen Sie, es gibt immer mehr Plattformen, Ausspielwege und so weiter. Man könnte jetzt dazu aber auch sagen: "Ja gut, da verlieren die alten Gate-Keeper an Einfluss". Also Leute wie Sie und sich, Journalisten, Autoren. Aber die vielen anderen, die vorher keine Stimme hatten, die kriegen doch jetzt eine Stimme. Man könnte doch auch argumentieren, dass es heute eine viel breitere Öffentlichkeit gibt.
Menasse: Ich glaube, das stimmt eben nicht. Wenn es darum geht, Schnittmengen der gesellschaftlichen Kommunikation abzubilden, dann kann mir bis jetzt niemand sagen, wo die sein sollen. Und auch die jungen Leute, die im Netz wahnsinnig aktiv sind und sich mit all den Phänomenen beschäftigen und auskennen, können einem das nicht sagen, sondern verweisen darauf, dass sich das herausstellen wird. Das ist so, wie es vor zehn Jahren irgendwie 25 Billigfluglinien gegeben hat, und irgendwann bleiben dann drei über. Wir sind im Moment, was Öffentlichkeit betrifft, in diesem 25er-Radius, und alles hat sich sozusagen zerlegt, also vervielfältigt, aber auch zersplittert. Man kann gar nicht mehr alle Menschen erreichen. Und ich glaube, das ist für demokratische Gesellschaften schon ein Problem, für nicht-demokratische ist es wahrscheinlich erstrebenswert.

Online-Überforderung - eine Gefahr für die Demokratie

Meyer: Jetzt hat aber gerade Jürgen Habermas, als er über Öffentlichkeit und Medien geschrieben hat, die alten Medienmodelle scharf kritisiert. Er hat zum Beispiel die Rolle des Kommerzes in den alten Massenmedien angeprangert. Auch damals gab es ja Medienhysterie. Es gab Boulevards, es gab Meinungsmache, es gab einen SPD-Kanzler, der gesagt hat, mir reichen "Bild" und Glotze zum Regieren. Das als paradiesischen Urzustand zu beschreiben, kann es ja auch nicht sein.
Menasse: Nein, so - als paradiesischen Urzustand - habe ich das auch nicht gemeint. Ich glaube, was bis jetzt überhaupt nicht ausreichend bedacht ist, ist die Rolle, die die Interaktivität der Digitalisierung spielt, also die zumindest theoretische Möglichkeit, dass wir alle an allem teilnehmen können. Wir kriegen von jedem Bürgerkrieg am anderen Ende der Welt, von jeder Katastrophe, von jedem Erdbeben, von jeder Schrecklichkeit auf der Welt - theoretisch - alles mit. Und es wirkt für uns so, als könnten wir das beeinflussen - durch das Sharen und Teilen und Liken und Online-Petitionen machen. Das führt aber genau zum Gegenteil. Das Gefühl, dass alles total zu viel ist für uns.
Es ist zu viel Information in der Welt, und daraus kommen diese drei berühmten Sätze, die wir alle ununterbrochen hören: man kann ja nichts mehr glauben, es gibt ja keine richtigen Medien mehr, alle belügen uns. Und das Allerschlimmste ist: wir können auch nichts mehr tun, denn es ist schon verloren. Ich glaube, diese Überforderung ist eine wirkliche Gefahr für demokratische Gesellschaften. Sie führt zu Zynismus, zu Hysterie, aber auch zu Rückzug.

Die "Klimakinder" - "alte Öffentlichkeit pur"

Meyer: Vielleicht können wir ja mal versuchshalber auf ein paar Zeichen der Hoffnung schauen: Wir hatten vor kurzem den Philosophen Martin Saar zu Gast, der über den YouTube-Star Rezo gesagt hat: "Rezo ist Habermasianer", weil er mit Argumenten und Quellen gearbeitet hat. Nun wissen wir alle, das ist ein sehr vereinzeltes Phänomen, aber doch ein sehr stark wahrgenommenes. Sieht man da nicht auch, dass auch innerhalb dieser neuen Medien anderes möglich ist?
Menasse: Ja, ich glaube auch, dass sich das jetzt gerade ein bisschen dreht und es zu neuen Formen kommt, bei denen die Vorteile überwiegen. Ich habe in meiner Börne-Rede auch die Klimakinder, wie ich sie nenne, als Beispiel für alte Öffentlichkeit herangezogen, denn die haben sich zwar mit ihren Smartphones vernetzt, aber das, was sie getan haben, ist alte Öffentlichkeit pur: zu Massen auf die Straße zu gehen, und zwar auf der ganzen Welt, und zwar seit Monaten, wenn nicht schon bald ein Jahr.
Das ist natürlich genau das, was alte Öffentlichkeit gemeint hat: ein Thema, das nicht weggeht und über das alle reden, ob kritisch oder unkritisch. Aber möglicherweise funktioniert das nur, weil das Klimaproblem so total existenziell ist und es sozusagen nur am Rande des Abgrunds wieder diese Gemeinschaft gibt, die dann wirklich etwas zu bewegen beginnt. Jetzt könnte man philosophisch fragen, ob das jetzt ein Vorteil ist oder doch wieder ein Nachteil, dass es erst jetzt, wo es schon fast zu spät ist, wieder klappt.

"Viel Lärm um nichts"

Meyer: Man könnte auch praktisch fragen: Gerade diese junge Generation bezieht ja ihre Informationen nicht mehr aus den klassischen Medien, haben Sie vorhin selbst gesagt. Trotzdem kommen die zu dieser Art von Vernetzung und zu dieser Art Aktivismus. Ist nicht das auch ein Zeichen, dass man auch als Neue-Medien-Nutzer zu Haltungen kommen kann, die sehr vernünftig sind?
Menasse: Das ist theoretisch möglich. Bis jetzt ergeben politologische und soziologische Untersuchungen über Politik und Protestbewegungen im Netz eher das Gegenteil: dass es sich verläuft, dass es zu schnell verbrennt. Wir denken zum Beispiel an Occupy. Möglicherweise ändert sich da jetzt was, aber keiner kann genau sagen, warum.
Aber wie gesagt, wenn wir jetzt sagen, dass diese total umfassende Digitalisierung die letzten zehn Jahre zurückreicht, hat das nichts gebracht außer sozuagen viel Lärm um nichts. Wir müssen schauen, ob sich da jetzt was ändert. Ich glaube aber auch, dass es mehr Sensibilität gibt. Das Rezo-Video ist ja deswegen so interessant und auch so beeindruckend, weil er mit diesen Quellen arbeitet und weil es gleichzeitig diese Durchschlagskraft hatte. Das möchte sich eine PR-Agentur ja gerne im Zimmerchen ausdenken, wie man das macht, dass man innerhalb von zwei Tagen ein paar Millionen Klicks kriegt.

Am Anachronistischen festhalten

Meyer: Was heißt all das jetzt für Ihr Nachdenken über Ihre eigene Rolle? Sie sind ja eine Intellektuelle, die sich öffentlich und auch in politischen Fragen stark engagiert hat, die sichtbar ist, die sich einmischt. Wenn Sie jetzt sehen, dass das über die alten Kanäle – wie Sie selbst sagen, die Öffentlichkeit ist kaputt – zu wenige Menschen erreicht, denken Sie dann auch darüber nach, andere Kanäle zu nutzen, vielleicht auch anders aufzutreten?
Menasse: Nein. Ich habe viel darüber nachgedacht, aber ich komme sozusagen immer wieder an den Anfang zurück. Ich glaube, man sollte dabei bleiben bei dem, was man gut kann, also das Langwierige, das auch lange Zeit braucht. Ich meine, wenn ich mir die Welt heute anschaue, ist es total absurd, total verrückt, sich ein paar Jahre lang zurückzuziehen und einen Roman zu schreiben. Wer will denn noch lesen, wer hat denn noch Bücher? Und in ein paar Jahren, wenn der Roman fertig ist, vielleicht überhaupt niemand mehr. Aber nein, ich glaube: Gerade das, dieses Paradoxe daran, dieses Anachronistische, das müssen wir hochhalten - jeder für sich in seinem Bereich. Ich glaube wirklich, dass diese Überforderung bald auch zu einer Überfütterung führen wird. Ich hoffe, dass sich das wie bei den Fluglinien aussortieren und ziemlich viel von dem Lärm wegfallen oder von uns gar nicht mehr bemerkt werden wird.

Religiöse Dimensionen der Political Correctness

Meyer: Ich will am Ende noch eine unentschuldbar große Frage aufwerfen. Im Herbst wird ein neues großes Werk von Jürgen Habermas erscheinen. Wie gesagt, er ist 90, er hat aber jetzt ein 1.700-Seiten-Werk über Religion und Philosophie geschrieben und denkt darüber nach, wie wir eigentlich unsere Werte begründen, wenn wir keine Religion mehr haben oder keine andere Form von großem ideologischem Überbau. Das wüsste ich gerne von Ihnen, weil man ja auch sagen kann, vielleicht haben wir diese Zersplitterung, vielleicht haben wir auch diese Drift nach rechts, weil uns so eine große Idee, wie wir eigentlich zusammenleben wollen, weil uns diese Idee fehlt. Was denken Sie darüber?
Menasse: Ich glaube, dass der Mensch an und für sich so lange bei den Religionen geblieben ist, in der einen oder anderen Weise, weil er sie braucht. Ich glaube, dass diese Religionen alle noch da sind, auch wenn sie heute nicht mehr Religionen heißen, sondern zum Beispiel Political Correctness. Das ist schon an sich ein inkorrekter Satz, aber dieser Glauben an das Wahre und Gute, das wir durch festes Wollen, Streben, durch Sprachgebote und Verhaltensregeln erreichen können, das ist etwas zutiefst Religiöses, und das ist heute genauso in der Welt wie sonst auch.
Wenn das nicht so wäre, dann würde auch der ganze digitale Sturm, der um uns bläst, nicht so aufgeregt und aggressiv sein. Also dieses Sich-daran-abarbeiten, wie wir die Welt besser machen und wie wir den anderen vor allem beibringen, dass sie besser sind – weil auf sich selbst guckt man ja eigentlich gern zuletzt –, das ist ein menschliches Kontinuum. Insofern, würde ich denken, ist Habermas auf dem richtigen Weg, 1.700 Seiten zu schreiben!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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