Schriftsteller Robert Macfarlane

Naturverlust führt zu Natursehnsucht

11:04 Minuten
Mächtige Baumwurzeln drängen inmitten eines Waldes an die Erdoberfläche.
Robert Macfarlane ist von der "Unterwelt" der Wälder fasziniert. © Eyeem / Oliver Henze
Robert Macfarlane im Gespräch mit Andrea Gerk · 16.09.2019
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Von der Sehnsucht, die absolute Wildnis zu finden, hat sich Robert Macfarlane längst verabschiedet. Stattdessen, sagt der Brite, solle man Natur da nehmen, wo man ihr begegne. Er spricht von moderner Natur: "Man muss nicht weit weggehen."
Andrea Gerk: Der britische Naturschriftsteller Robert Macfarlane hat die Wildnis in unserer gezähmten Welt gesucht. In seinem neuen Buch zeigt er sich als Experte für Unterwelten. "Im Unterland - Eine Entdeckungsreise in die Welt unter der Erde" heißt es.
Gerk: Wir kommen ja gerade aus dem Wald, um uns herum sind jetzt auch noch ein paar Bäume, aber wie würden Sie diese Art von künstlicher Natur beschreiben? Ist das jetzt Kunst oder Natur?
Macfarlane: Ich sehe hier links von mir eine wunderbare Eiche, dann haben wir einen Haselnussbaum, und diese Bäume, die kommunizieren alle miteinander.

Der Wald als Garten

Gerk: Aber das hat mit der Wildnis, die Sie auch mal gesucht haben, ja gar nichts mehr zu tun.
Macfarlane: Nein, das hier ist natürlich ein Garten, das ist was Künstliches. Wir würden das als moderne Natur bezeichnen. Das hat natürlich jemand sehr schön arrangiert und gepflanzt.
Der Schriftsteller Robert Macfarlane steht vor einer Wand, von der Wurzeln herabhängen.
Der Schriftsteller Robert Macfarlane ist einer der bekanntesten Vertreter des nature writing.© Bryan Appleyard
Gerk: In Ihrem neuen Buch lassen Sie sich ganz zu Anfang durch einen Baum runter in die Unterwelt, in das Unterland, wie es bei Ihnen heißt. Sie kriechen dann in dem Buch durch unterirdische Karsthöhlen, beschreiben Gras, Grabstätten, unsichtbare Städte, Gletscher oder auch Endlager von Atomabfällen. Was hat Sie da runtergezogen? Das ist ja wahnsinnig beklemmend und dunkel da unten. Gerade so wie Sie es beschreiben, möchte man da eigentlich gar nicht runter.
Macfarlane: Ja, es ist auf der einen Seite natürlich beklemmend, aber es ist natürlich auch sehr erfüllend, weil man so viel erfährt. Tausende von Jahren, die man sozusagen in diesem Unterland, in dieser Dunkelheit mitverbracht hat, da ist ja auch unwahrscheinlich viel Wissen, das man sich erwerben kann. Diese Dualität finde ich sehr spannend.
Gerk: Sie zeigen ja nicht nur die Dualität, sondern was für verschiedene Bedeutungen der Untergrund für uns hat, dass wir darin Dinge bergen, schützen; dass wir aber auch Dinge rausreißen, die kostbar sind; oder dass wir unseren Müll darin verstecken Das ist ganz schön ambivalent, was da unten los ist, oder?
Macfarlane: Ja, ich habe sehr viel auch Literatur gelesen über dieses Unterland, und wir benutzen es eigentlich für drei verschiedene Dinge. Auf der einen Seite holen wir uns aus dieser unterirdischen Welt Dinge heraus, die wir benötigen; auf der anderen Seite benutzen wir sie, wie Sie auch schon erwähnt haben, um unseren Müll dort loszuwerden; wir benutzen es auch, um Dinge zu verstecken, um Dinge für immer zu bewahren.
Gerk: Ich habe extra von zu Hause die Schaufel meiner Tochter mitgebracht. Sollen wir mal gucken, ob wir was finden?
Macfarlane: Ja, dann versuchen wir das mal, ich bin sehr neugierig, was wir in einem deutschen Unterland so finden könnten. Vielleicht sollen wir uns doch mehr zu den Bäumen bewegen.

Wood Wide Web - das "Waldnetzwerk"

Gerk: Was glauben Sie, was wir da finden? Es ist sehr trocken jetzt.
Macfarlane: Also was wir schon wissen, was wir hier finden werden, ist eine Art Netzwerk, eine Art Fungusnetzwerk, was wir im Englischen das Waldnetzwerk nennen. Als moderner Archäologe habe ich hier ein ganz modernes Artefakt gefunden, wir haben hier eine kleine gelbe Plastikfingerpuppe.
Gerk: Fingerpuppe?
Macfarlane: Hier ist eigentlich das, was wir jetzt so ein bisschen ausgebuddelt haben, noch unsichtbar. Also dieses Waldnetzwerk, dieses Fungusnetzwerk kann man hier noch nicht wirklich erkennen. Das ist zu fein.
Gerk: Wie tief muss man da runter?
Macfarlane: Wir müssten noch ein bisschen tiefer gehen. Es ist nur unter der Oberfläche. Aber dieser Erdboden ist für uns nach wie vor so geheimnisvoll. Wir können immer noch nicht unter unsere Füße schauen, aber wir können hochschauen bis zum Mond, wir können sogar auf Sterne schauen, die Trillionen Lichtjahre entfernt sind.
Gerk: Seit Sie das wissen mit diesem wood wide web, dem Waldnetzwerk, gehen Sie da anders durch dann Wald?
Macfarlane: Ich sehe es wirklich ganz anders. Für mich gibt es keine einzelnen Bäume mehr, die nur für sich stehen, sondern ich sehe sie wirklich im Zusammenhang mit einem Kommunikationsnetzwerk. Aber da besteht auch eine Art Wettbewerb unter diesen Bäumen.
Gerk: So, wie Sie das im Epping Forest beschreiben, in dem Kapitel, können wir auch durchaus davon etwas lernen für unsere menschliche Kommunikation.
Macfarlane: Ja. Wenn ich etwas gelernt habe von meinen Recherchen im Unterland, dann ist es, falls wir uns retten können, wie wir uns retten können – durch Kooperation, durch Zusammenarbeit, eben nicht dadurch, dass ein Baum ganz alleine nur für sich steht.

Die Unterwelt des Waldes

Gerk: Wollen wir wieder aufstehen und ein bisschen weitergehen? Sind Sie jemand, der das braucht, regelmäßig in den Wald zu gehen?
Macfarlane: Also entweder den Wald oder die Gebirge. Also das erste Buch, was ich geschrieben habe, da ging es ja darum, was die Gipfel der Gebirge für Menschen so anziehend macht. Und in den letzten 17 Jahren habe ich mich dann mehr für den Wald und für diese Unterwelt, für dieses Unterland des Waldes, für diese Dunkelheit interessiert.
Gerk: Jetzt sind Sie ja jemand, der viele tolle Bücher darüber geschrieben hat, was in der Natur passiert. Sie sagen auch, man muss eigentlich erst eine eigene Sprache dafür erfinden, was sich dort abspielt. Was glauben Sie: warum lesen die Leute so viel über die Natur, anstatt einfach in die Natur zu gehen?
Macfarlane: Wir leben ja in einer Welt des Naturverlustes, es geht ja die Biodiversität verloren, das dünnt sich auch. Das führt aber dazu, dass die Menschen das mehr lieben, weil dieser Verlust dazu führt, dass man sich mehr dazu hingezogen fühlt. Das erklärt ein wenig, warum die Leute so viel über die Natur lesen wollen und wissen wollen.
Gerk: Aber man muss ja schon ganz schön weit fahren, um überhaupt irgendwo hinzukommen, wo noch echte Natur ist, wo man sich mal verlaufen kann zum Beispiel, oder?
Macfarlane: Ja, das stimmt schon. Andererseits habe ich diesen Gedanken längst aufgegeben, die echte Wildnis zu finden. Man muss nicht weit weggehen, das ist nicht nötig, sondern man muss die Natur einfach da nehmen, wo man sie findet und sich ein bisschen von dieser Sehnsucht verabschieden, die absolute Wildnis zu finden.
Gerk: Ich hatte auch so ein bisschen den Eindruck, dass die wahre Wildnis unsichtbar in der Unterwelt ist, so wie Sie sie in Ihrem Buch beschreiben.
Macfarlane: Ja, wir müssen uns aber immer vergegenwärtigen, dass das kaum erforscht ist, was unter uns liegt. Ich habe einfach die Erfahrung gemacht, dass schon in dem Moment, wo ich mich in gewisse Höhlen begeben habe oder in gewisse Gletscher, dass ich da schon diese Wildnis gefunden habe.

"Klaustrophobie fasziniert mich"

Gerk: Wachen Sie eigentlich manchmal noch nachts auf und haben Albträume von diesen beklemmenden Höhlenexkursionen und was Sie da alles erlebt haben?
Macfarlane: Nein, nicht wirklich. Klaustrophobie fasziniert mich. Ich kann damit ganz gut umgehen. Ich finde das eher faszinierend, wenn ich Leute beobachte, wenn sie meine Bücher lesen, wie sie sich bewegen und wie sie sich indirekt mit Klaustrophobie auseinandersetzen.
Gerk: Mir ging es auch so. Ich konnte auch kaum weiterlesen, als ich mit Ihnen in der Höhle war.
Macfarlane: Es ist eins der seltenen Beispiele, wo sich ein Autor darüber freut, dass sein Leser nicht weiterlesen konnte, weil es beweist, dass es eine gewisse Macht auf den Leser ausgeübt hat.
Gerk: Gibt es denn etwas von diesen unglaublichen Erlebnissen, die Sie in dem tollen Buch beschreiben, was Sie besonders beeindruckt hat?
Macfarlane: Ja, das war in Ostgrönland 2016, wo wir uns an einem Gletscher befanden – und da öffnete sich unter uns plötzlich eine ganz neue blaue Welt: Die wirkte wie eine riesige hundert Meter lange Kreatur, die alles in sich aufnahm, alles ins Blaue tauchte, auch mich selbst. Das war wirklich ein unvergessliches Erlebnis.
Gerk: Nach all diesen Eindrücken und Analysen, die Sie für dieses Buch gemacht haben und auch schon für die Bücher vorher – schauen Sie eher optimistisch auf unser Überleben und unsere Zukunft hier auf der Erde oder eher pessimistisch?
Macfarlane: Die Frage, die man sich natürlich stellt, ist immer: Sind wir gute Ahnen? Sind wir gute Erben von dem, was uns die Natur hinterlassen hat? Da würde ich jetzt sagen, ist die erste Antwort nein, das sind wir nicht, wir gehen nicht gut mit diesen Ressourcen um, aber was mir Hoffnung macht, sind all diese jungen Menschen, die sich plötzlich wieder sehr für Nachhaltigkeit interessieren, die sich sehr für Natur interessieren. Die haben schon eine gewisse Kraft, die mich optimistisch stimmt.
Gerk: Ist Ihnen das auch ein Anliegen als Autor, als Schriftsteller, dass Sie die Leute aufklären und vielleicht auch ein bisschen aufrütteln, so dass sie endlich was tun?
Macfarlane: Ja, anders kann ich mich auch gar nicht definieren als jemand, der über die Natur schreibt. Natürlich möchte ich, dass es eine Veränderung der Haltung gibt. Ob das eine Veränderung im Herzen ist oder ob das sogar weitergeht und sich vielleicht sogar auf Konzerne auswirkt, ist dabei gleich wichtig.
Gerk: Wir gehen jedenfalls anders durch den Wald, wenn wir jetzt vielleicht noch mal zurückgehen, nachdem wir Ihr Buch gelesen haben!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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