Schriftsteller Pierre Jarawan

"Nur eine Revolution könnte im Libanon etwas ändern"

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Porträt von Pierre Jarawan
Pierre Jarawan lässt seine Bücher im Libanon spielen. Die Explosion im Beiruter Hafen vergrößere die Not der ohnehin gebeutelten Bevölkerung, sagt Jarawan. © Marvin Ruppert
Pierre Jarawan im Gespräch mit Andrea Gerk · 10.08.2020
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Pierre Jarawans Bücher spielen im Libanon. Sein neuer Roman "Ein Lied für die Vermissten" schildert die Wut der Bürger und ihre Sehnsucht nach Wandel. Der Poetry Slammer und Bestseller-Autor ist sicher, dass Neuwahlen nichts ändern werden.
Pierre Jarawan hat eine deutsche Mutter und eine libanesischen Vater, er lebt schon lange in München, und seine Bücher spielen im Libanon. Nach der Ammoniumnitrat-Explosion am vergangenen Dienstag im Hafen von Beirut sagt er, seine Verwandten hätten die Explosion gesundheitlich gut überstanden, stünden aber noch unter Schock, weil es unvorstellbar ist, was dieser Stadt und den Menschen da widerfahren ist. Die Explosion hat über 150 Menschen getötet, rund 5.000 wurden verletzt und 300.000 obdachlos, der Sachschaden geht in die Milliarden.

Mangel an Perspektiven

Viele Libanesen protestieren schon seit Monaten, und nach der Explosion gehen noch mehr Leute auf die Straße, um ihre Wut kundzutun. Diese Wut spielt schon in Jarawans neuem Roman "Ein Lied für die Vermissten" eine wichtige Rolle. Er sagt nun, die Menschen litten im Libanon existenzielle Not, angefangen bei den Nahrungsmitteln und einem Mangel an Perspektiven. Das Land schlittere seit Jahrzehnten immer tiefer in die Krise.
Für die junge Generation sei das tragisch, da sie, nach 1990 geboren, mit dem Bürgerkrieg nichts mehr zu tun gehabt habe. "Eigentlich eine unschuldige Generation, die in ein Land hineingeboren wurden, in dem konfessionelle Grenzen dominieren; in dem eine Klasse herrscht, die die Bevölkerung ausnutzt; eine Kleptokratie, die Regierung bereichert sich an der Bevölkerung und begreift das Land als persönliche Müllkippe. Und dementsprechend richtet sich diese Wut seit einem halben Jahr gegen die Regierung", sagt Jarawan. "Alle sollen weg, die Regierung komplett ausgetauscht werden."

Der Geburtsfehler der Verfassung

Weltweit einzigartig sei, dass das Parlament im Libanon nach religiösem Proporz besetzt werde. "Alle 18 religiösen Gruppen, zwölf davon christlich, bekommen gemäß ihrer Verbreitung in der Bevölkerung Sitze im Parlament." Die Menschen wählten nach Religion – man wählt jemand, weil er Christ, weil er Sunnit, weil er Schiit sei, und nicht das politische Programm, denjenigen, der das beste Wirtschafts- oder Bildungsprogramm habe. "Das ist im Grunde fast schon ein Geburtsfehler der Verfassung in diesem Land", sagt Jarawan.
"Wenn Neuwahlen etwas ändern würden, hätte die Regierung sie nicht selbst vorgeschlagen, davon können wir ausgehen." Neuwahlen würden überhaupt nichts ändern, zeigt sich Jarawan überzeugt. Schon in normalen Zeiten würden Stimmen gekauft, gerade in der katastrophalen Lage heute wären die Leute wohl noch eher bereit, das Geld anzunehmen, meint er – "weil es einfach noch viel dringender benötigt wird".
"Tatsächlich, und so schwer mir das auch zu sagen fällt, glaube ich, dass nur eine Revolution irgendetwas ändern könnte", sagt Jarawan. "Die Frage ist natürlich, wie kann eine solche Revolution möglichst unblutig ablaufen – das ist das große Problem im Moment."
(mfu)

Pierre Jarawan: "Ein Lied für die Vermissten"
Berlin Verlag, München/Berlin 2020
464 Seiten, 22 Euro

Pierre Jarawan: "Am Ende bleiben die Zedern"
Piper Verlag, München 2018
448 Seiten, 12 Euro (Taschenbuchausgabe – das Hardcover erschien 2016 im Berlin Verlag)

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