Schriftsteller Ingo Schulze über das Wahlergebnis

"Es gibt wirklich viel Grund, zu protestieren"

Der Schriftsteller Ingo Schulze
Schriftsteller Ingo Schulze © imago/Galuschka
Ingo Schulze im Gespräch mit Andrea Gerk · 25.09.2017
Das Wahlergebnis der Bundestagswahl ist denkwürdig und sollte von den Parteien zum Anlass genommen werden, sich kritisch zu hinterfragen, meint der Schriftsteller Ingo Schulze. Stattdessen kam ihm bei deren ersten Reaktionen das Gruseln.
Für den Schriftsteller Ingo Schulze aus Dresden ist das aktuelle Wahlergebnis keine große Überraschung. "Man ist natürlich letztlich mitverantwortlich, auch wenn man nur eine Stimme hat", sagt er.
"Die Dinge, die heute schief laufen, haben ja ihre Erklärung in der Vergangenheit. Und da könnte man jetzt sehr weit zurückgehen."
Schon vor vier Jahren, erzählt Schulze, habe er mit befreundeten Künstler gegen die große Koalition protestiert. Der Aufruf richtete sich schon damals gegen die SPD.
"Wenn sie nicht die Führung übernimmt, soll sie doch auch da schon in die Opposition gehen, damit einfach wirklich die Politik verschiedene Auffassungen vertritt. Und diese große Koalition ist, glaube ich, schon auch ein großer Grund, und auch einfach, wie sie agiert hat, führt zu dem, was wir jetzt in dem Wahlergebnis sehen."

Die Protestwähler haben Angst vor Identitätsverlust

Haben die etablierten Parteien versäumt, sich mit den Ängsten vieler Menschen auseinanderzusetzen? In den Analysen nach der Bundestagswahl wird deutlich, dass unter den Protestwählern sehr viele Menschen sind, die um ihre kulturelle Identität fürchten. Zumindest ein Teil der Bevölkerung scheint offenbar eine starke Vorstellung davon zu haben, was dieses "Wir" sein soll.
"Solange man nicht danach gefragt wird, ist es ja immer so, dass man das zu wissen glaubt. Wenn man es dann erklären muss, ist es schwierig. Ich denke, dass hinter dieser kulturellen Identität natürlich eine ganze Menge Ängste stehen, die auch ernst zu nehmen sind. Aber es ist auch eine ganze Menge Demagogie gekommen. Ich glaube, dass es wirklich viel Grund gibt, zu protestieren, sich mit dem Status quo überhaupt nicht abzufinden "

Der Status quo sei kritikwürdig

Der Erfolg der AfD ist für Ingo Schulze auch darauf zurückzuführen, dass der bisherigen Regierung nicht gelungen sei, die gesamtgesellschaftliche Situation nachhaltig zu verbessern.
"Ich finde es auch gar keine Lösung, zu sagen, jetzt müssen die AfD-Wähler nur verschwinden, und dann ist ja alles wieder gut, sondern dieser Status quo, sagen wir mal das, was wir vor vier Jahren hatten, hat das ja jetzt produziert."
Den Verlust von Wählerstimmen sollte von den etablierten Parteien zum Anlass genommen werden, sich selbst kritisch zu hinterfragen. Von den Reaktionen der Parteien auf ihre Wahlergebnisse ist er deshalb enttäuscht.
"Ich hab jetzt wirklich nur Ausschnitte gesehen, weil ich unterwegs war. Aber da kommt mir das Gruseln, weil ich denke, in der Niederlage macht man jetzt genauso weiter wie vorher. Man muss wirklich die eigenen Dinge in Frage stellen, und das ist eben die Gerechtigkeit in diesem Land. Die SPD muss mal ihre soziale Handbremse lösen und sich auch von dieser Agenda-Politik verabschieden.
Und wenn man tatsächlich eben nicht will, dass Millionen sich auf den Weg nach Europa machen, dann muss man halt Handelsgesetze ändern, da muss man Kreditverträge ändern, da muss man EU-Subventionen ändern. Das sind ja alles Dinge, die allerdings weniger Gewinn bedeuten, weniger Export. Also man muss auch sehr bewusst Verlust hinnehmen, und den kann man nur hinnehmen, wenn man auch im Land das dann besser verteilt."
(mw)
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