Schottland

Die eingebildete Nation

Fest für Dudelsackpfeifer in Edinburgh: Am 18. September stimmen die Schotten über ihre Unabhängigkeit ab.
Fest für Dudelsackpfeifer in Edinburgh: Am 18. September stimmen die Schotten über ihre Unabhängigkeit ab. © dpa / picture alliance / David Cheskin
Von Markus Reiter · 11.08.2014
Am 18. September stimmen die Schotten darüber ab, ob ihr Land vom Vereinigten Königreich unabhängig werden soll. Dabei können sie sich aber nicht darauf berufen, eine Nation zu sein, meint Markus Reiter. Die habe es nie gegeben.
Vor einigen Monaten machte ich Urlaub in Schottland. Am Rande von Sterlin, nordwestlich von Edinburgh, besuchte ich das Dörfchen Bannockburn und schaute mir ein gewaltiges Reiterstandbild des schottischen Königs Robert the Bruce an. Er schlug mit seinen Soldaten an dieser Stelle ein zahlenmäßig überlegenes englisches Heer unter König Edward II. Das war im Juni 1314.

Der 700. Jahrestag der Schlacht kam den schottischen Nationalisten gerade recht. Sie werben dafür, dass sich Schottland Mitte September in einer Volksabstimmung dafür entscheidet, sich von England und Wales zu lösen und das Vereinigte Königreich zu verlassen. Von einem Sieg erwarten sie, dass die schottische Nation wiederaufersteht. Das halte ich für Unsinn!
Sie kann nicht wiederauferstehen, weil es sie nie gab. Mittelalterliche Gesellschaften beruhten auf der persönlichen Loyalität zu ihrem König, Herzog oder Clan-Chef. Sie waren Personenverbände, gegründet auf Blut, Eide und gegenseitige Verpflichtungen. Was immer für uns Heutige eine Nation ausmacht, nämlich gemeinsame Sprache, Kultur und Ethnie, hatte für die Menschen damals kaum Bedeutung.
Vorgestellte Gemeinschaften
Noch schärfer sieht es der US-amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson. Er spricht von "immagined communities". Was Nationen zusammenhalte, sei reine Einbildung, häufig in Gestalt von Geschichtsmythen. Sie wurden von späteren Generationen erfunden, um der Nation besonderen Glanz und tiefen Sinn zu geben.
In Wirklichkeit wurden Nationen aus pragmatischen und machtpolitischen Erwägungen geschaffen. Nicht selten zogen Sieger willkürlich Grenzen durch die Landschaft, ohne die vielfältigen Vernetzungen von Geschichte und Kultur, Sprache oder Ethnie zu berücksichtigen. Realpolitisch sind auch die Gründe, warum derzeit der Nationalstaat wieder en vogue ist.
Bürgerbewegungen von Schottland bis Katalonien, von Belgien bis Sardinien fordern einen eigenen Staat. Und viele Regierungen und Parlamente der EU-Mitgliedsländer wünschen sich weniger gemeinsames Europa und dafür mehr nationale Eigenständigkeit. Ihr Argument lautet, dass man nur so der Vielfalt Europas gerecht werden könne.
Besser: Den Staat als öffentlichen Dienstleister betrachten
Dabei gilt das Gegenteil: Es sind die Nationalstaaten, die aus multiethnischen und vielsprachigen Gesellschaften mit unterschiedlichen historischen Erfahrungen ein Einheitsgebilde zu formen versucht haben.
Ein friedlicheres Miteinander wäre viel leichter, wenn wir den Staat als öffentlichen Dienstleister begriffen, der verfassungsrechtlich gebunden ist und parlamentarisch kontrolliert wird. Er organisiert das Gemeinwesen – auf verschiedenen Ebenen, nämlich der kommunalen und regionalen, der einzelstaatlichen und europäischen.
Er garantiert Rechte, definiert Pflichten und darf Steuern erheben. Doch verhält er sich im besten Sinne neutral gegenüber seinen Bürgern und ihrem persönlichen und gesellschaftlichen Leben, gegenüber Ethnien und Sprachen, Kulturen und Religionen, gerade ohne sich mit Mythen und Folklore emotional aufzuladen. Nur so wird Vielfalt respektiert und gepflegt.
Freiheitlich-demokratisches Recht begründet Staat
Nationalstaaten hängen dagegen Illusionen nach. Um sie zu formen, setzen die Herrschenden auf Unterdrückung, Gleichmacherei und Geschichtsfälschung. Am Ende scheitern diese Staaten an der Realität, die sich nicht verbiegen lässt.
In einer modernen Welt funktioniert ein Staat nicht deswegen, weil er eine Nation repräsentiert, die aus dem Nebel der Geschichte erstanden ist, sondern weil er eine gemeinsame Basis an freiheitlich-demokratischem Recht darstellt. Indem Bürger einem Gemeinwesen beitreten und sich eine Verfassung geben, gründen sie einen Staat.
Die Schotten können für eine Unabhängigkeit von England stimmen - aber nicht, weil sie eine Nation sind, sondern weil sie es politisch für richtig halten.

Markus Reiter arbeitet als Schreibtrainer, Journalist und Publizist. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Geschichte an den Universitäten Bamberg, Edinburgh und FU Berlin. Unter anderem war er Feuilletonredakteur der FAZ und schreibt Bücher über Kultur, Sprache und Kommunikation. Mehr unter www.klardeutsch.de
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