Schöne neue Welt

Rezensiert von Jürgen Vietig |
In seinem Buch "Ideale Welten" beschäftigt sich Gregory Claeys mit der Geschichte utopischen Denkens in Literatur und Gesellschaft. Und beschreibt, wie aus utopischen Ansätzen eine schreckliche Wirklichkeit werden kann.
Ohne Zweifel - der Leser erfährt viel über Utopien, über die Suche nach Utopia, über die Licht- und Schattenseiten utopischer Ideen, wo immer der Versuch unternommen wurde, sie zu verwirklichen. Die Katastrophen, mit denen sie mehrfach endeten, werden von Gregory Claeys als Dystopien eingeordnet, aus Utopia, dem Ort Nirgendwo, ist dann Dystopia, der Ort des Schreckens geworden.

Der britische Professor für die Geschichte des politischen Denkens an der University of London ist wie kaum ein anderer Autor prädestiniert, einen Überblick über die Geschichte utopischen Denkens zu schreiben, hat er doch – so heißt es im Klappentext - eine 40-bändige Quellensammlung zu dieser Thematik herausgegeben.

Und so spannt Claeys einen Bogen von den Ideen des klassischen Altertums Griechenlands und außereuropäischen Visionen einer idealen Gesellschaft über christliches Denken bis zu dem zentralen Werk "Utopia" von Thomas Morus, das diesen Begriff in der Welt bekannt gemacht hat.

Er führt diesen Bogen weiter über die Revolutionen der Neuzeit bis hin zu den totalitären Realisierungsversuchen des 20. Jahrhunderts, zu den Dystopien. Außerdem beschäftigt sich Claeys mit Science Fiction in Literatur und Film – das alles auf nur 224 Seiten mit mehr als 150 meist farbigen Abbildungen.

Um diesen immensen Stoff zu bewältigen, bedarf es klarer Maßstäbe, um einzugrenzen, welche Autoren, welche sozialen und politischen Bewegungen berücksichtigt werden sollen und welche nicht. Claeys definiert diesen Maßstab so:

"Dieses Buch über Utopia konzentriert sich auf drei Bereiche: die utopische Idee, den engeren Bereich der utopischen Literatur und praktische Versuche, bessere Gemeinschaften zu gründen. Das Kriterium von Plausibilität hilft, den Begriff Utopia einzugrenzen und zu spezifizieren, über seine Realisierbarkeit nachzudenken und ihn damit von dem nur Imaginären oder völlig Unmöglichen zu trennen."

Die Frage, wie weit das Vorbild "Utopia" in die Wirklichkeit übertragbar ist, hat Claeys intensiv beschäftigt. In dem 1516 in lateinischer Sprache erschienenen Buch wird Utopia als eine Inselrepublik geschildert, in der die Armut besiegt, der Markt reguliert ist. Die Nahrungsmittel werden von den Bauern kostenlos geliefert und sie bekommen Waren aus der Stadt ebenfalls kostenlos. Die politische Ordnung ist demokratisch.

Für Claeys stellt sich hier bereits die Frage der Plausibilität. Hat Morus ein Gegenbild zur Wirklichkeit des englischen Lebens entworfen, trägt es satirische Züge und schließlich war Morus selbst von der Realisierbarkeit des Utopia-Modells überzeugt. Claeys selbst nimmt dazu nicht Stellung.

Dennoch liegt eine Stärke des Buches in der Darstellung von vielfältigen historisch belegten Versuchen, utopische Ideen Realität werden zu lassen. Als einen Vertreter des britischen kommunitaristischen Sozialismus benennt er den Unternehmer Robert Owen, dessen Fabrikdorf in Schottland Beispielcharakter haben sollte:

"Etwa zweitausend Menschen lebten zu der Zeit in New Lanark, als Owen die Gemeinschaft verwaltete (etwa von 1800 bis 1825). Während dieser Zeit erhöhte er die Reallöhne, förderte er die Ausbildung der Kleinkinder, beseitigte Unrechtmäßigkeiten, richtete einen beitragsbezogenen Krankheits-, Versehrten- und Altersfond ein, hielt kleine Diebstähle und Trägheit im Zaum und organisierte das Dorf in Nachbarschaftsabteilungen, aus denen Mitglieder gewählt wurden, um Streitereien zwischen den Bewohnern zu schlichten. Zuweilen als 'Glückliches Tal' bezeichnet, war das modellhafte Fabrikdorf ein immenser Erfolg, da es Tausende von Besuchern anzog und der Beweis dafür war, dass kapitalistische Prinzipien mit dem Wohlbefinden der Arbeiter vereinbart werden konnten."

Natürlich schildert er nicht nur die wenigen gelungenen Beispiele, sondern widmet sich auch intensiv jenen Entwicklungen, die aus utopischen Ansätzen Dystopien, sprich: schreckliche Wirklichkeit werden ließen:

"Der 'Andere' – ob Jude, Ausländer oder Ketzer – hatte oft eine schwierige Zeit in Utopia. Es wurde erwartet, dass ein kommunistischer Mensch, wie der Endzeitmensch, ein echter Kerl sei, der seine Hände in Blut wusch, wenn kein anderes Reinigungsmittel verfügbar war. Hier kann man vielleicht wirklich sagen, dass Menschen zu Monstern geworden sind."

Das Plausibilitätskriterium, das Claeys für seine Geschichte der utopischen Ideen – und ihrer dystopischen Entartungen - zur Grundlage machen wollte, findet hier seine Rechtfertigung.

Umso mehr befremdet es, dass der Autor sich auch weitschweifig mit Imaginärem beschäftigt, das er zuvor von der Utopie abgegrenzt hatte. Himmel, Hölle, Paradies in der Vorstellungswelt vieler Religionen nehmen einen breiten Raum ein, ohne dass er deutlich machen kann, was sie zur Geschichte der Utopie beitragen.

"In der Offenbarung des Johannes gibt es Beschreibungen eines 'Lebensbaumes' wie auch eines 'reinen Flusses mit Lebenswasser'. An dieser Stelle finden sich auch Hinweise, wie die Tugendhaften in das Paradies kommen. Die Bibel stellt auf diese Weise sowohl tugendhafte Unschuld als auch Luxus als Endziele der ewigen menschlichen Wünsche dar. Viele dieser Bilder wurden später ausgeschmückt, besonders durch römische Schriftsteller wie Irenäus von Lyon und Josephus."

Der Verweis auf Irenäus und Josephus trägt auch nichts zum Thema bei, ist aber typisch für die Darstellungsweise von Claeys. Immer wieder trifft man auf Dutzende von Namen, die bestenfalls die Belesenheit des Autors dokumentieren, aber nichts zur Erhellung seiner Gedankengänge beitragen. Claeys ist – so scheint es - in seinem Zettelkasten – oder seiner Datenbank - ertrunken, wollte so viel wie möglich zwischen zwei Buchdeckel pressen und hat schließlich die Übersicht verloren.

Das gilt auch für das Kapitel über Science Fiction, die er ebenfalls vorab wie das Imaginäre von Utopia ausdrücklich abgegrenzt hatte. Er kommt dabei über die Aufzählung von einigen Filmen und Buchtiteln kaum hinaus. Man könnte ihn fragen, warum er nur diese Genres berücksichtigt? Enthalten nicht viele Märchen utopisches Gedankengut – man erinnere sich an das Schlaraffenland – und ist Sarastros Reich in Mozarts "Zauberflöte" nicht genauso wert, erwähnt zu werden, wie viele Filme?

Die Seiten, die Claeys für Jenseitsvorstellungen und Science Fiction aufgewendet hat, fehlen ihm an anderer Stelle, um sich mit wichtigeren utopischen Ideen auseinanderzusetzen.

Immanuel Kants Schrift "Zum ewigen Frieden" spielt für Claeys keine Rolle, obwohl sie wahrhaftig Plausibilität besitzt und das europäische völkerrechtliche Denken nachhaltig beeinflusst hat. Stattdessen ist das einzige, was Claeys zu Kant zu sagen hat:

"Philosophen der Aufklärung, darunter Immanuel Kant, Louis-Sebastien Mercier und Johann Gottfried Herder, standen der Idee nahe, dass die Seele nach dem Tod zu anderen Planeten reisen kann."

Interessant – aber sicher keine plausible Utopie…

Außerdem macht Claeys es sich mit der Kritik an anderen Denkern manchmal allzu leicht. Ernst Bloch, dem er einen einzigen Satz widmet, wirft er vor, "Utopia auf einen psychologischen Impuls zu reduzieren", ohne zu erwähnen, wie intensiv Bloch sich mit dem Verhältnis von Utopie und Materie, mit der konkreten, realen Utopie auseinandergesetzt hat.

Leider hat das Buch auch andere Mängel: Das Register ist nicht vollständig, man sucht Sir Francis Bacon, den Autor von "Nova Atlantis", dem "neuen Atlantis", dort vergeblich, obwohl ihm mehrere Seiten gewidmet sind. Und die Fußnoten verlaufen irgendwo im Nichts, werden nicht fortgesetzt, obwohl auf weitere Anmerkungen hingewiesen wird.

Shakespeares Komödie "Was Ihr wollt" wird mit "Wie es euch gefällt" verwechselt und der englische, eher angemessene Titel des Buches "In Search of Utopia. The History of an Idea", also "Auf der Suche nach Utopia – die Geschichte einer Idee", wurde ohne ersichtliche Notwendigkeit als "Ideale Welten. Die Geschichte der Utopie" übersetzt.

Bleibt noch die reichhaltige Bebilderung – auf den ersten Blick eine starke Seite des Buches. Doch dann entdeckt man ein Plakat des sozialdemokratischen Arbeitersportkartells, auf dem junge Sportler in Turnhosen und mit freiem Oberkörper dargestellt sind. Das Plakat ruft zu einem Fest aus Anlass des 11. Jahrestages der Weimarer Verfassung auf und wird folgendermaßen kommentiert:

"Plakat für eine Sportveranstaltung in Fuhlsbüttel, Deutschland, am 10. August 1930. Das nationalsozialistische Regime kultivierte ab 1933 ein Ideal arischer Rassereinheit als Teil seiner Kampagne, andere Rassen zu unterdrücken. Geistig Behinderte wurden für die ersten Euthanasieversuche herangezogen, welche die Basis für die spätere 'Endlösung' bildeten."

Das klingt so, als propagiere das Plakat sozialdemokratischer Sportler die nationalsozialistische Rassepolitik. Kein Wort jedoch darüber, dass das Arbeitersportkartell selbst Opfer nationalsozialistischer Verfolgung wurde: bereits im Frühjahr 1933 wurde es von den Nazis verboten. Das ist mehr als ärgerlich und der Leser argwöhnt, ob nicht auch weitere Abbildungen derart manipuliert wurden. Darüber kann auch das Schlusswort des Autors nicht hinwegtrösten, selbst wenn man dem zustimmen kann:

"Die alten idealen Welten können uns Hoffnung, Inspiration und einen Sinn dafür geben, wonach wir streben und was wir vermeiden sollten. Aber unsere ideale Welt muss von uns selbst geschaffen werden und eine ernsthafte Abrechnung mit dem Schicksal sein, dem wir hilflos gegenüberstehen, wenn wir versäumen, es zu erschaffen."

Gregory Claeys: Ideale Welten. Die Geschichte der Utopie
Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2011
Gregory Claeys: "Ideale Welten. Die Geschichte der Utopie"
Gregory Claeys: "Ideale Welten. Die Geschichte der Utopie"© Konrad Theiss Verlag