Eine Leitung zur Unterstützung

Moderation: Kirsten Dietrich · 23.02.2013
Seit vier Jahren gibt es in Berlin ein Seelsorgetelefon, an das sich Muslime in Not wenden können. Dessen Geschäftsführer Imran Sagir meint, dass die meisten Anliegen sich nicht von denen der Christen unterschieden. Mit einem Unterschied: Einsamkeit im Alter komme unter Muslimen offenbar kaum vor.
Kirsten Dietrich: Wer gar nicht mehr weiter weiß, kann immer noch zum Telefonhörer greifen – nach diesem Prinzip arbeitet seit über 50 Jahren die Telefonseelsorge. Für alle Fragen und Anliegen des Lebens erreichbar, mit nur einem Anruf. Telefonseelsorge erscheint inzwischen ganz selbstverständlich. Aber erreicht dieses unkomplizierte Beratungsangebot auch wirklich alle Menschen in unserer Gesellschaft? Genau aus dieser Frage heraus ist vor vier Jahren in Berlin das Muslimische Seelsorgetelefon entstanden. Getragen von Islamic Relief Deutschland, einer muslimischen Wohlfahrtsorganisation, und in enger Zusammenarbeit mit der kirchlichen Telefonseelsorge.

Ab 1. März, also ab nächstem Freitag, ist das Muslimische Seelsorgetelefon rund um die Uhr zu erreichen. Eine gute Gelegenheit also zum Gespräch. Imran Sagir ist zu uns ins Studio gekommen. Er ist der Geschäftsführer des Muslimischen Seelsorgetelefons und er arbeitet auch selber als Berater am Telefon. Wie kommt man zu so einer Aufgabe?

Imran Sagir: Ja, das ist ganz interessant. Ich bin in der muslimischen Jugend- und Gemeindearbeit groß geworden, war auch in meiner Studienzeit sehr aktiv, und wir hatten in der Jugendarbeit so einen Gedanken, mal so ein Telefon für Jugendliche einzurichten, haben uns das ein paar Sitzungen angeguckt, und dann haben wir gesagt, nee, also, das ist doch viel anspruchsvoller, als wir uns das am Anfang gedacht haben. Haben dann zwar intern von den etwas Älteren die Nummern für die etwas Jüngeren zur Verfügung gestellt, falls irgendwelche Probleme bestehen, aber haben das dann nicht mehr verfolgt. Und so kam ich dann halt dazu.

Dietrich: Was kommen denn da für Anrufe? Das ist wahrscheinlich ein ganz breites Spektrum – können Sie irgendwie mal so einen kleinen Eindruck geben, was …

Sagir: Das ist von ganz banal bis ganz schrecklich. Ganz banal heißt, dass vielleicht eine aufgeregte Schülerin anruft und sagt, sie hat ihre Freundin fünf Tage nicht erreicht, und dann fragt man sie als Telefonseelsorger, ja, das ist ja vielleicht schon eine Frage, die du dir stellst, aber hast du vielleicht mal bei ihr zu Hause angerufen? Nur, weil das Handy aus ist, heißt das ja noch nicht, dass irgendwas Schreckliches passiert sein muss. Ja, und dann sagt sie, hach, das hab ich ja ganz übersehen, und dann schmunzelt man womöglich darüber, aber für die Anrufende ist das natürlich schon schrecklich, weil sie sich ja Sorgen gemacht hat. Und dafür sind wir ja da. Bis hin zu ganz üblen Sachen wie Gewalterfahrungen oder Ähnliches oder Sucht, die dann also wirklich auch, ich sag mal, aus unserer Sicht dann auch dann sehr belastend sind, auch für die Telefonseelsorger dann im Endeffekt. Und da muss man dann halt Wege und Schritte gemeinsam besprechen, die dann der Anrufende unter Umständen dann auch gehen möchte, das ist so der Ansatz.

Dass es da natürlich selbst bei diesem niederschwelligen Angebot dann immer noch so eine gewisse Hemmschwelle gibt, liegt einfach daran, dass, wenn Leute aus der muslimischen Community anrufen, dann ist das ein neuartiger Dienst für sie. Natürlich rufen bei uns auch andere Leute an, also Nichtmuslime, andere Weltanschauungen, wie auch immer, aber für Muslime ist das ein neuartiger Dienst. Und die machen sich dann schon mal drei Gedanken, ob sie uns anrufen oder nicht. Aber wenn sie uns dann anrufen, dann ist das für sie natürlich eine tolle Sache. Es ist halt im Endeffekt weltweit das erste Mal, dass Muslime so ein Seelsorgetelefon anbieten.

Dietrich: Warum ist dieser Anruf, warum ist dieses sozusagen Nach-außen-gehen mit seinen Problemen gerade für Muslime und Musliminnen so ein großer Schritt?

Sagir: Also es gibt ein kulturell-religiöses Missverständnis, dass man Dinge, die einen beschäftigen, irgendwie mit sich selbst und Gott klären soll, oder möglichst im absolut engsten Familienkreis. Und maximal geht man dann noch vielleicht zum, ich sag mal, Dorfältesten oder dem Imam oder irgendeiner weisen Person aus dem Umfeld. Was aber zum Teil dann ein bisschen, gerade in unserer Gesellschaft, ein größeres Problem ist; es gibt natürlich auch Generationsunterschiede. Die zweite Generation hat natürlich ganz andere Erfahrungen, als wenn man jetzt über Generationen in einem Umfeld sich aufgehalten hat. Und das ist dann natürlich eine Sache, die aus meiner Sicht eher ein Missverständnis ist, dass man dann sagt, ich möchte erst mal das irgendwie für mich klären oder ich bleibe mit meinen Problemen erst mal allein, weil ich ja weiß, aus meinem Umfeld versteht mich erst mal keiner. Das ist nur ein Beispiel. Dann gibt es natürlich auch andere Dinge, die da eine Rolle spielen.

Aber mittlerweile, denke ich, das zeigen auch unsere Anruferzahlen, gibt es eine hohe Akzeptanz, und auch die muslimischen Gemeinden, die von uns gehört haben, mit denen wir auch in Kontakt sind, haben das sehr positiv aufgenommen und haben das also als eine Ergänzung ihrer Arbeit gesehen. Und es ist auch so, dass sie sich auch bei uns informieren wollen, was sie denn präventiv vielleicht auch in ihren Gemeinden leisten können oder in ihrer Vereinsarbeit. Also da gibt es wirklich ein ganz großes Spektrum.

Dietrich: Das heißt, die Gemeinden sehen das eher als eine Bereicherung? Man könnte ja auch vermuten, dass sie es vielleicht auch als eine Konkurrenz sehen, weil eben diese Autoritätsposition damit, na, vielleicht nicht untergraben wird, aber dass da eben noch eine andere Anlaufstelle ist?

Sagir: Na ja, das ist uns zumindest nicht zu Ohren gekommen. Mag sein, dass es solche Leute gibt, die unter Umständen diese Befürchtung haben, aber es ist bei uns so angekommen - und das ist nicht nur eine Gemeinde, sondern viele Gemeinden, die gesagt haben, wir werden für euch werben, schickt uns einfach eure Flyer. Haben uns auch zum Teil auf ihre Homepage gesetzt mit unserem Banner und sehen das als Ergänzung und auch eine Entlastung.

Es ist auch teilweise so, dass die Moscheen auch in ihren Räumlichkeiten für uns werben mit Plakaten und so weiter, sodass man einfach sieht, okay, wir kriegen zwar viele Sachen mit als Gemeinde oder als Imam oder wer auch immer da der Ansprechpartner ist, aber es ist besser, wenn dann vielleicht erst mal so eine gewisse Klärung ist, weil nicht alles ist irgendwie religiös abzuarbeiten oder mit einem Gespräch getan. Und das ist auch nicht unser Anspruch als Telefonseelsorger, sondern wir versuchen ja, mit dem Anrufer irgendwie die ganzen Sachen zu ordnen und zu gucken, wo denn der nächste Schritt sein könnte, wo man sich professionelle Hilfe vielleicht auch holen kann, oder aber – vielleicht ist das auch nur ein Kommunikationsproblem zwischen den Beteiligten, wie auch immer, also dass man das so ein bisschen ordnet. Und das ist wirklich nur der erste Schritt, und so sehen wir das auch, und ich denke, die Anrufer wie aber auch die Gemeinden haben das sehr gut verstanden.

Dietrich: Das ist vielleicht auch fast so ein bisschen so ein Schritt von einer Säkularisierung, dass man sagt in den Gemeinden, das eine ist Religiöses – trennt man - und das andere sind die psychischen und sozialen Dinge?

Sagir: Ja, also wir sind noch nicht säkular in diesem Sinne, ja, also sonst würden wir es nicht Muslimisches Seelsorgetelefon nennen, aber es ist so, dass wir ja auch Imame und Theologen haben, die mit uns auch die Ausbildung gemacht haben. Also vor allen Dingen in der ersten Ausbildung waren zwei Imame dabei, und später war dann noch ein Theologe, der das mit gemacht hat. Und die Imame hatten wir eigentlich so mehr mit dabei, damit sie für uns werben können in der Öffentlichkeit. Und nach der Ausbildung haben die gesagt, na ja, das ist ja schön, aber eigentlich wollen wir lieber Telefondienst machen und Werbung in der Öffentlichkeit wollen wir gar nicht, das kriegt ihr dann schon alleine hin, so nach dem Motto, und sind dann wirklich ans Telefon gegangen.

Und das Schöne war, dass ein Imam von denen das gesagt hat, und der andere hat das auch nur bestätigt. Er hat gesagt, es wäre schön, wenn so eine seelsorgerische Ausbildung noch zusätzlich zu ihrem Studium, was sie machen, um halt Imame zu sein, dass sie das noch mal zusätzlich als Zusatzqualifikation hätten. Und das war natürlich sozusagen so ein gewisser Ritterschlag für uns. Und wir wahren den islamischen Rahmen, das ist ja das, was die Anrufer auch von uns erwarten, wenn wir uns Muslimisches Seelsorgetelefon nennen und auch Islamic Relief steht ja auch dafür, dass wir da nicht irgendwie etwas machen, wo wir sagen, wir verletzen diesen religiösen Rahmen oder die Leute sind verunsichert, wenn sie uns anrufen, in der Frage.

Dietrich: Was heißt das genau, Sie wahren den islamischen Rahmen?

Sagir: Na ja, also wir werden mit Sicherheit nicht etwas ab – also irgendwie eine Absolution erteilen, wenn etwas ist, was nicht religiös okay ist, ohne es zu verurteilen, natürlich. Also das ist natürlich die seelsorgerische Position. Also ich akzeptiere so, wie derjenige ist, ohne zu sagen, das ist komplett in Ordnung so. Ich kann ihn auch bestärken in dem Weg, den er geht, wenn es aber natürlich etwas ist, was gegen die Religion steht, wenn jetzt zum Beispiel jemand Drogen nimmt oder so – gut, das ist aber auch Common Sense, sag ich mal, in der Gesellschaft, dann werde ich nicht sagen, wunderbar, dass du das machst. Also, der ruft ja aus einer gewissen Motivation heraus an, weil er einen Gewissenskonflikt sieht oder so, aber wir werden ihm nicht einfach nur ins Gewissen reden. Also das ist nicht unser Anspruch, sondern unser Anspruch ist wirklich, den Anrufer aufzunehmen, so wie er ist, und seine Sorgen erst mal zu teilen und zu gucken, ob es da einen Weg gibt, wie man ihm dann beistehen kann, und wie er denn weitergehen kann.

Die Schwäche von Telefonseelsorge grundsätzlich ist natürlich, dass wenn wir auflegen, wir nicht wissen, was dann passiert. Weil es ist ja anonym, wir können auch nicht nachfragen, wie geht es dir oder so. Das kriegen wir nur mit, wenn sich dann jemand noch einmal meldet und sagt, ja wunderbar, toll, ich habe mich da weiterentwickeln können. Oder es kommt mal eine Mail, da kriegen wir es dann mit. Aber die Erfahrung zeigt, dass die Anrufer doch sehr, sehr erleichtert sind, wenn sie einfach die Möglichkeit haben, erst mal nur zu sprechen, auch wenn das jetzt natürlich noch nicht konkret eine Lösung ist dann immer. Also das muss ja dann der Anrufer selber dann in Angriff nehmen.

Dietrich: Ihr Telefon existiert jetzt seit fast vier Jahren. Haben sich die Anliegen verändert, mit denen die Menschen bei Ihnen anrufen?

Sagir: Nein, also die Anliegen sind hauptsächlich beziehungstechnischer Natur, also sei es jetzt in der Familie oder auch ein bisschen darüber hinaus. Also das ist so der Schwerpunkt. Es gibt natürlich, wie gesagt, diese Bandbreite, die ich vorhin erwähnt hatte. Aber was wir beobachtet haben, ist, wenn wir die Möglichkeit hatten, unsere Werbung spezifischer zu schalten – also, wir haben jetzt fünf Werbeclips gedreht zu verschiedenen Themen, unter anderem auch Glücksspiel. Und als wir diesen Glücksspiel-Clip mal schalten durften in einem türkischen Fernsehsender, übrigens pro bono dankenswerterweise, war es dann so, dass dann in diesen zwei Wochen wirklich deutlich mehr Anrufer waren, die wirklich dieses Thema auch angesprochen haben. Also der direkt Betroffene wie aber auch das Umfeld, wie zum Beispiel die Ehefrauen oder so. Und das ist natürlich eine Sache, wo wir merken, es gibt bestimmte Themen, die man ansprechen kann, und dann hat man auch eine gewisse Resonanz.

Dietrich: Gibt es irgendeine Untersuchung dazu, ob bei einem muslimischen Seelsorgetelefon andere Anfragen ankommen als bei einem kirchlichen oder einem säkularen?

Sagir: Also bei der kirchlichen Telefonseelsorge, beziehungsweise sagen wir mal in der Mehrheitsgesellschaft – im Allgemeinen ist es so, dass das Thema Einsamkeit von etwas älteren Personen ein großes Thema ist. Das ist bei uns ab und zu mal da, aber das ist ein Thema, was wir so gut wie nicht haben. Also das heißt, Eltern, die mittlerweile 70 sind oder so, deren Kinder vielleicht in einer anderen Stadt wohnen, die eher alleine wohnen oder so, und das einfach eine Versicherung ist, okay, da hört mir jemand zumindest zu. Also solche Anrufe haben wir relativ selten. Das ist vielleicht ein deutlicher Unterschied in der alltäglichen Arbeit, den man wirklich jeden Tag spüren könnte. Ich weiß das so genau, weil ich auch bei der kirchlichen Telefonseelsorge hospitieren durfte und unsere Auszubildenden das ja auch tun in ihrer Ausbildung, sie hospitieren an beiden Telefonen. Und das ist natürlich eine Sache, da würde ich sagen, das ist ein deutlicher Unterschied.

Aber was die Problematiken selbst betrifft, die diese Menschen haben, das ist im Kern wirklich das Gleiche. Es gibt manchmal so ein bisschen kulturelle Unterschiede, weil die Beziehungen etwas anders gelagert sind, also enger sind auch, die familiären Beziehungen, was jetzt zum Beispiel zu den Eltern oder das familiäre Umfeld betrifft, wenn dann halt die Familie etwas größer ist und vielleicht auch in Deutschland dann lebt, das spielt vielleicht noch ein bisschen deutlicher eine Rolle. Aber wenn man sich den Kern dann anschaut, dann unterscheidet sich das nicht. Also die Menschen haben mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede, würde ich an der Stelle sagen.

Dietrich: Vielen Dank, Imran Sagir. Er ist der Geschäftsführer des Muslimischen Seelsorgetelefons in Berlin. Informationen zum Seelsorgetelefon finden sie online unter mutes.de. Telefonisch erreichen Sie das Muslimische Seelsorgetelefon ab März rund um die Uhr unter 030-443509821.

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