Not und Tod kennen keine Konfession

Von Matthias Bertsch · 18.09.2010
"Not und Tod kennen keine Konfession", lautet einer der Grundsätze der Notfallseelsorge. Er gilt auch heute noch, betont Hermann Fränkert-Fechter von der Koordinierungsstelle Notfallseelsorge des Erzbistums Berlin.
Doch angesichts der wachsenden Zahl an Migranten werden immer mehr interreligiöse Notfallseelsorger gebraucht - gerade in existenziellen Situationen.

"Wenn Leute lange in Deutschland leben, die aus dem Ausland kommen, sie beten immer noch in ihrer Muttersprache, das sollte man akzeptieren, dass wo's ganz persönlich wird, dass man da auch die eigene Kultur und die eigene Religion leben lassen kann, und wir christlichen Notfall-Seelsorger treten da auch gerne zurück und haben da überhaupt keine Ansprüche, der betroffene Mensch gibt die Musik an."

Bislang steht der christlichen Notfallseelsorge in Berlin als Vermittler und Dolmetscher in Krisensituationen nur eine kleine Gruppe türkischer Migranten zur Verfügung. Einer davon ist Ismail Tuncay. Der Arzt, der in einer Gemeinschaftspraxis in Kreuzberg arbeitet und alles stehen und liegen lässt, wenn sein Notfallhandy klingelt, hat schon manche Situation entschärft. Zum Beispiel, als die Polizei nach einem Selbstmord den Leichnam zur Obduktion mitnehmen wollte und aufgebrachte türkische Familienangehörige dies – aus Angst oder Unkenntnis – mit allen Mitteln verhindern wollten.

"Wir sind in der Stadt bekannte Persönlichkeiten, und wenn wir in einem Kreis hingehen, dann genießen wir dort automatisch einen gewissen Respekt. Diesen Respekt benutze ich auch, den Menschen Hilfe zu leisten. Das ist nicht nur Religion oder Sprache, sondern hat auch mit Community zu tun."

Knapp die Hälfte der Teilnehmer der Berliner Fortbildung zur Interreligiösen Notfallseelsorge waren Muslime, unter ihnen viele Ärzte und Therapeuten. Sie sollen in Zukunft eng mit den Einsatzkräften und den christlichen Notfallseelsorgern zusammenarbeiten. Doch auch diese müssen eine interreligiöse und interkulturelle Sensibilität entwickeln, so die Islamwissenschaftlerin Leila Donner-Üretmek.

"Das kann damit zusammenhängen, dass man weiß, welche Gebete man vielleicht rezitieren sollte, wie man denjenigen anspricht, dass, wenn es um das Überbringen einer Todesnachricht zusammen mit der Polizei geht, dass wenn zum Beispiel nur die Frau zuhause ist, dass man auch weiß, dass die Frau, wenn sie alleine ist, nicht einen Mann oder mehrere Männer, wenn sie sehr gläubig ist, in ihre Wohnung bittet, dass man dann wartet, bis der Ehemann auch mit dabei ist, dass man einfach diese Kenntnis hat."

Zur interreligiösen Notfallseelsorge gehört die Kenntnis vom Umgang mit Tod, Trauer und Trauma in den verschiedenen Kulturen und Religionen. Das wurde in der Berliner Fortbildung deutlich. Doch mindestens so wichtig waren die Diskussionen während der Seminartage, in denen die Teilnehmer ihre eigenen Erfahrungen und Unsicherheiten einbrachten. Auf die Frage einer Rettungssanitäterin "Darf ich einer Muslima das Kopftuch abnehmen, wenn sie schwer verletzt ist?", antwortete eine muslimische Frau.

"Im Islam ist es das Grundrecht als Moslem zu sagen: Ich diene Gott und ich kann nur dienen, wenn ich lebendig bin. Es nützt nichts, dass ich Kopftuch trage und dann tot bin. Es ist ein großes Vergehen, dann wäre es ein Selbstmord, was dann ganz groß zur Sünde tragen würde."

Mit Abschluss der Fortbildung haben gut 70 Männer und Frauen – darunter gläubige Muslime, Christen und Juden ebenso wie Nichtgläubige - ein Zertifikat als "ehrenamtliche Krisenhelfer in der psychosozialen Notfallversorgung" erhalten. Den Test in der Praxis werden sie erst noch bestehen müssen. Der Bedarf an interreligiös und interkulturell geschulten Notfallseelsorgern allerdings, so viel scheint jetzt schon festzustehen, ist groß – und das nicht nur in Berlin.


Weitere Aufsätze zum Thema finden sich in dem Sammelband:

Helmut Weiß / Karl Federschmidt / Klaus Temme (Hgg.): "Handbuch interreligiöse Seelsorge"
Neukirchener Verlagsgesellschaft, Neukirchen-Vlyn 2010
428 S., 34,90 Euro.