„Schliemanns Welten“ in Berlin

Ein Archäologenleben wie aus einer Netflix-Serie

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Historisches Foto, das die Ausgrabungsstätte (1870-1882) von Heinrich Schliemann in Troja zeigt.
Legendäres Troja: Heinrich Schliemann glaubte, es gefunden zu haben. © picture-alliance / akg-images
Von Carsten Probst · 12.05.2022
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Heinrich Schliemann glaubte fest daran, Troja entdeckt zu haben. Bis heute sind die Funde des Hobbygelehrten von unschätzbarem Wert. Eine neue Ausstellung in Berlin würdigt nun seine Arbeit. Die berechtigte Kritik an dieser wird dabei eher klein gehalten.
Heute würde man Heinrich Schliemann vermutlich als Freak bezeichnen, der seine anfangs laienhafte Antikenbegeisterung wie eine Privatreligion zelebrierte, getrieben von einer seltsamen Vorstellung mythologischer Realität, wie sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überaus populär war und noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts in die bürgerlichen Bücherschränke fortwirkte. Insofern erscheint Heinrich Schliemann, der als Selfmademan, Weltreisender und Hobbygelehrter gleich mehrere Leben in einem führte, selbst wie eine Romanfigur, wenn auch eine, die er zu guten Teilen selbst erfunden hat.
Matthias Wemhoff, Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte, zeigt eine Silbervase, die von Heinrich Schliemann in Troja gefunden wurde.
Matthias Wemhoff, Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte in Berlin, zeigt einen der Funde, die in der neuen Ausstellung zu sehen sind.© picture alliance / dpa / Jörg Carstensen
Eine national-historistisch gefärbte Antikensehnsucht traf in Schliemanns Person auf einen wahren Abenteurergeist. Seine Grabungskampagnen finanzierte er in der Regel selbst, sparte dabei nicht mit Selbstinszenierung – und hatte, zumindest was die Zahl seiner großen Schatzfunde betraf, beeindruckenden Erfolg. Nachvollziehen kann man das nun in der neuen Schau "Schliemanns Welten. Sein Leben. Seine Entdeckungen. Sein Mythos" in der James-Simon-Galerie in Berlin, die anlässlich seines 200. Geburtstages stattfindet.
Matthias Wemhoff, Direktor des Neuen Museums Berlin, nennt den Entdecker einen „Mann, der aus dem Nichts kommt“. Schliemann sei „jemand, dem nichts mit in die Wiege gelegt worden ist; der nicht selbstverständlich Karriere machte. Der als Krämergeselle keine Zukunft sah, der auswandern wollte nach Venezuela – und dann wahrscheinlich niemals Troja gefunden hätte.“

Aufbruch, Schiffbruch, Sprachgenie

Von seinem Pastorenelternhaus im mecklenburgischen Neubuckow ausgehend, zeichnet die Jubiläumsausstellung in ihrem ersten Teil noch einmal Schliemanns Leben nach, bevor er als Troja-Entdecker zu Ruhm gelangte – und schon dieser erste Teil wirkt aus heutiger Sicht eher wie eine Netflix-Serie.
An bunten Bild- und Texttafeln wird man durch ein wahres Labyrinth verschiedener Lebensstationen und -brüche geführt. Schliemanns Aufbruch nach Venezuela endete jäh mit Schiffbruch vor der niederländischen Küste, er versuchte daraufhin sein Glück in Amsterdam, erwies sich als sprachbegabt und lernte zwölf Sprachen binnen kurzer Zeit, darunter auch Russisch.
Geschäfte mit Russland versprechen Geld, Schliemann setzt seine neuerworbenen Sprachkenntnisse gezielt ein und macht Karriere, siedelt als Vertreter eines Handelshauses nach Sankt Petersburg über, wo er zwanzig Jahre leben und ein großes Vermögen erwirtschaften sollte.

Mit 44 Jahren umgesattelt auf Archäologie

Zwischenzeitlich führte ihn sein Weg nach Kalifornien in die Hochzeit des Goldrausches. Wegen mangelnder Anerkennung zog er sich jedoch schließlich aus dem Handelsgeschäft zurück. Die Sinnsuche trieb ihn auf eine Weltreise bis nach Indien und China – anschließend begann er in Paris ein Studium der Philologie. Nun wollte er, mit 44 Jahren, zum Archäologen umsatteln. Hier beginnt der zweite Teil der Ausstellung.
Die Besucherinnen und Besucher sollen sich wie mitten im Troja-Graben fühlen, sagt Matthias Wemhoff. „Das ist unsere Ausstellungsidee: Sie sehen Troja mit den Augen von Heinrich Schliemann. Wir stehen am Anfang der Archäologie. Noch nie hat jemand vorher einen Siedlungshügel untersucht. Wie muss man ihn ausgraben? Wenn jemand eine Setzung hat wie Schliemann, dass das Älteste unten liegt: Dann arbeitet er danach. Im ersten Jahr arbeitet er nach Kubikmetern!“

Von unschätzbarem Wert

Schliemanns brachiale Grabungsmethoden wären heute ein archäologisches No-Go. Der berühmt-berüchtigte Schliemann-Graben durchpflügte das gesamte Grabungsgebiet auf dem Hügel Hisarlik in der Türkei, auf dem er das historische Troja vermutete, bis auf den Felsengrund.
Damit legte er zwar sämtliche Siedlungsschichten an diesem Ort frei und stieß auf wichtige Funde, zerstörte damit aber auch viele andere. Dass er seine kostbaren Schatzfunde rundheraus den Gestalten und Orten aus der griechischen Mythologie zuordnete, war schon zu Schliemanns Lebzeiten umstritten.
Die Bezeichnungen haben sich allerdings trotzdem erhalten: Nach wie vor wird im Schliemann-Saal des Neuen Museums der Schatz des Priamos präsentiert, oder vielmehr eine Replik seiner wichtigsten Teile, denn die Originale sind heute im Moskauer Puschkin-Museum zu sehen und gehören zu den prominentesten Streitfällen von Beutekunst mit Russland.

Hat es Troja überhaupt je gegeben?

Nach wie vor ist von Schliemanns trojanischen Grabungsfunden die Rede, obwohl sich Archäologen heute weniger denn je darüber im Klaren sind, ob die Stadt, die er ausgrub, tatsächlich das historische Troja war, das Homer in seiner Ilias beschrieben hat, und ob es dieses Troja überhaupt je gegeben hat.
Die Ausstellung würdigt aber auch Schliemanns nicht weniger spektakuläre Grabungskampagnen in Orchomenos, Mykene oder Tiryns. Seine Verdienste um die Archäologie der Antike sind offenkundig. Seine schillernde Persönlichkeit ist es auch. Die Staatlichen Museen haben sich zu Ehren eines ihrer berühmtesten Sammler entschlossen, die kritischen Stimmen zu Schliemann nur als Fußnoten zur Ausstellung zu behandeln.

Die Ausstellung "Schliemanns Welten. Sein Leben. Seine Entdeckungen. Sein Mythos" ist noch bis zum 06. 11. 2022 in der James-Simon-Galerie in Berlin zu sehen.

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