Schicksalhafte Beschlüsse
Der Zweite Weltkrieg hätte einen anderen Verlauf genommen, wenn die Führer der Großmächte in wichtigen Momenten andere Entscheidungen gefällt hätten. Der britische Historiker Ian Kershaw zeigt "Wendepunkte" auf und erläutert denkbare Alternativen.
Der englische Historiker und Hitler-Biograph Ian Kershaw steht in der großen angelsächsischen Tradition der erzählenden Geschichtsschreibung. Diese ist immer drei Gefahren ausgesetzt: Oft verwandelt sich bei ihr das zeitlich frühere Ereignis zur vermeintlichen Ursache des zeitlich späteren. Die zweite Gefahr erzählender Geschichtsschreibung liegt in der mehr oder weniger unreflektierten Unterstellung, historische Prozesse steuerten von Anfang an auf ein Ziel zu wie ein literarischer Text auf eine Pointe. Die dritte Gefahr besteht in der Versuchung, geschichtliche Prozesse zu personalisieren nach dem Bonmot, dass es Männer sind, die Geschichte machen.
Kershaw behandelt diese Grundfragen der Geschichtsschreibung freilich nicht methodologisch, sondern gleichsam praktisch anhand von zehn "Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg", denn:
"Der Verlauf dieses Krieges … wurde weitgehend bestimmt durch eine Reihe schicksalhafter Beschlüsse, welche die Führer der Großmächte innerhalb von nicht mehr als 19 Monaten, zwischen Mai 1940 und Dezember 1941 fassten."
Die zehn Schlüsselentscheidungen in Großbritannien, Deutschland, Japan, den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion wurden von einem knappen Hundert Politikern und Militärs getroffen, aber Kershaw macht deutlich, dass die Bedingungen und Strukturen, innerhalb derer Politiker und Militärs handelten, sehr unterschiedlich waren. Dazu gehören die Macht der Bürokratie ebenso, wie ökonomische Gegebenheiten, Geheimdienstinformationen und andere Faktoren. So musste zum Beispiel nur der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt auf die öffentliche Meinung Rücksicht nehmen bei seinen Entscheidungen - im Gegensatz zu den Diktatoren Stalin, Hitler und Mussolini.
Die erste Schlüsselentscheidung, die Kershaw in ihrer Entstehung und ihrem strukturellen Gefüge packend schildert, fiel in England. Nachdem Hitlers Wehrmacht Polen, Dänemark und Norwegen überfallen und besiegt hatte, begann der fulminante Bewegungskrieg im Westen, in dem nacheinander Luxemburg, Belgien, Holland und schließlich ein großer Teil Frankreichs besetzt wurden. Knapp zwei Wochen, nachdem Winston S. Churchill Premierminister geworden war, wurden am 23. Mai 1940 bei Dünkirchen 250.000 britische und 120.000 französische Soldaten eingekesselt.
Das fünfköpfige britische Kriegskabinett stand vor der Entscheidung, entweder Hitler Friedensverhandlungen anzubieten, die britische Flotte an ihn auszuliefern und aus dem Krieg auszuscheiden, oder die britischen Soldaten evakuieren und weiterkämpfen zu lassen.
"Die Wehrmacht stand nur noch rund 15 Kilometer vor dem Hafen. (…) Die Bevölkerung ahnte natürlich nicht, vor welch weit reichender Entscheidung das Kriegskabinett stand und erkannte erst nach und nach die Ungeheuerlichkeit der Ereignisse, die sich praktisch vor ihrer Haustür abspielten."
In zähem dreitägigem Ringen gelang es Churchill, seine zögernden Kollegen zu überzeugen, dass die Soldaten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln evakuiert werden müssten. Am 4. Juni 1940 verkündete er das "Wunder von Dünkirchen" und sein Versprechen:
"Wir werden an den Küsten kämpfen, wir werden auf Landungsplätzen kämpfen, wir werden auf den Feldern und in den Straßen Kämpfen, wir werden auf den Hügeln kämpfen; wir werden uns niemals ergeben."
Mit Fug und Recht kann man sagen, dass der Weltkrieg anders verlaufen wäre, wenn sich Churchill mit der riskanten Entscheidung durchzuhalten nicht durchgesetzt hätte.
Bei anderen Schlüsselentscheidungen spielten der Starrsinn und die Macht einzelner Personen eine weit problematischere Rolle. Hitler ließ keinen Zweifel, wer seine Hauptfeinde waren: das europäische Judentum und der Bolschewismus. Den Pakt mit Stalin schloss er nur, um sich den Rücken frei zu halten beim Westfeldzug. Der Entschluss, die Sowjetunion im Frühjahr oder Sommer 1941 anzugreifen, fiel bereits im Juli 1940 im Siegesrausch. Den unerhört raschen Vormarsch in der Sowjetunion verdankte die Wehrmacht aber nicht nur der besseren Ausrüstung, sondern auch dem Starrsinn und den einsamen Entschlüssen Stalins. Trotz ebenso klarer wie vielfältiger Warnungen erwartete er einen Angriff erst für 1942 und blieb in der ideologischen Vorstellung befangen,
"dass die westlichen Demokratien einen Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion entfachen,"
und die beiden Diktaturen sich gegenseitig besiegen lassen wollten. Für solche katastrophalen Fehlentscheidungen sind Diktaturen viel anfälliger als Demokratien. Das gilt auch für Mussolinis Abenteuer, am 28.Oktober 1940 - im Windschatten von Hitlers Siegen im Westen - Griechenland zu überfallen. Kershaw schreibt:
"Ein schneller Sieg in Griechenland würde das Gleichgewicht zwischen den Diktatoren wiederherstellen, sein eigenes Ansehen steigern und Italien endlich einen gewissen Anteil an der Kriegsbeute einbringen."#
Der vermeintliche "Spaziergang", wie Mussolinis Außenminister Graf Galezzo Ciano meinte, kostete 150.000 italienischen Soldaten das Leben. Die Idee eines "Parallelkrieges", in dem Italien ein eigenes Reich erobern wollte, war als Hirngespinst eines ehrgeizigen Diktators entlarvt worden.
Zu ganz schwierigen Schlüsselentscheidungen wurde der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt gezwungen. Er gewann den Wahlkampf 1940 mit dem Versprechen, keine amerikanischen Soldaten in den "europäischen Krieg" zu schicken. Kurz danach beherrschte Hitler ganz Europa. England wankte, aber die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung sah darin - noch - keine Gefahr für das eigene Land und lehnte Hilfe an das bedrohte Land ab. Roosevelt musste fintenreich taktieren, das heißt nach Kershaw:
"Helfen, um Amerika aus dem europäischen Krieg herauszuhalten, nicht um es in ihn hineinzuziehen. Es war die Schlüsselentscheidung - eine der wichtigsten des gesamten Krieges - für ein Programm, das nicht weniger als eine Erklärung des Wirtschaftskrieges gegen die Achse darstellte."
Diese Entscheidung im Dezember 1940, nicht erst der formelle Kriegseintritt der USA ein Jahr später, brachte die Wende im Kriegsgeschehen. Aber auch bei dieser, wie bei den anderen Schlüsselentscheidungen gab es Alternativen, denn die oppositionellen Republikaner verfolgten mehrheitlich einen stramm isolationistischen Kurs und hätten Roosevelt in Bedrängnis bringen können. Verglichen mit Roosevelt und Churchill hatten die Diktatoren in Europa sehr viel mehr Autonomie und Entscheidungsspielräume – auch für irrationale Entscheidungen.
Zu den Vorzügen des Buches gehört, dass Kershaw - trotz seiner Leitfrage nach Alternativen - nicht ins Spekulative oder ins bodenlose "Was-wäre-wenn" abdriftet, sondern nur realistische Optionen kritisch analysiert. Der Autor vermittelt Fachhistorikern wie historisch Interessierten Einsichten nicht nur in Schlüsselentscheidungen, sondern lenkt auch den Blick auf deren Vorgeschichte, deren Folgen und deren ökonomische und politische Bedingtheit.
Ian Kershaw: Wendepunkte - Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008
Kershaw behandelt diese Grundfragen der Geschichtsschreibung freilich nicht methodologisch, sondern gleichsam praktisch anhand von zehn "Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg", denn:
"Der Verlauf dieses Krieges … wurde weitgehend bestimmt durch eine Reihe schicksalhafter Beschlüsse, welche die Führer der Großmächte innerhalb von nicht mehr als 19 Monaten, zwischen Mai 1940 und Dezember 1941 fassten."
Die zehn Schlüsselentscheidungen in Großbritannien, Deutschland, Japan, den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion wurden von einem knappen Hundert Politikern und Militärs getroffen, aber Kershaw macht deutlich, dass die Bedingungen und Strukturen, innerhalb derer Politiker und Militärs handelten, sehr unterschiedlich waren. Dazu gehören die Macht der Bürokratie ebenso, wie ökonomische Gegebenheiten, Geheimdienstinformationen und andere Faktoren. So musste zum Beispiel nur der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt auf die öffentliche Meinung Rücksicht nehmen bei seinen Entscheidungen - im Gegensatz zu den Diktatoren Stalin, Hitler und Mussolini.
Die erste Schlüsselentscheidung, die Kershaw in ihrer Entstehung und ihrem strukturellen Gefüge packend schildert, fiel in England. Nachdem Hitlers Wehrmacht Polen, Dänemark und Norwegen überfallen und besiegt hatte, begann der fulminante Bewegungskrieg im Westen, in dem nacheinander Luxemburg, Belgien, Holland und schließlich ein großer Teil Frankreichs besetzt wurden. Knapp zwei Wochen, nachdem Winston S. Churchill Premierminister geworden war, wurden am 23. Mai 1940 bei Dünkirchen 250.000 britische und 120.000 französische Soldaten eingekesselt.
Das fünfköpfige britische Kriegskabinett stand vor der Entscheidung, entweder Hitler Friedensverhandlungen anzubieten, die britische Flotte an ihn auszuliefern und aus dem Krieg auszuscheiden, oder die britischen Soldaten evakuieren und weiterkämpfen zu lassen.
"Die Wehrmacht stand nur noch rund 15 Kilometer vor dem Hafen. (…) Die Bevölkerung ahnte natürlich nicht, vor welch weit reichender Entscheidung das Kriegskabinett stand und erkannte erst nach und nach die Ungeheuerlichkeit der Ereignisse, die sich praktisch vor ihrer Haustür abspielten."
In zähem dreitägigem Ringen gelang es Churchill, seine zögernden Kollegen zu überzeugen, dass die Soldaten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln evakuiert werden müssten. Am 4. Juni 1940 verkündete er das "Wunder von Dünkirchen" und sein Versprechen:
"Wir werden an den Küsten kämpfen, wir werden auf Landungsplätzen kämpfen, wir werden auf den Feldern und in den Straßen Kämpfen, wir werden auf den Hügeln kämpfen; wir werden uns niemals ergeben."
Mit Fug und Recht kann man sagen, dass der Weltkrieg anders verlaufen wäre, wenn sich Churchill mit der riskanten Entscheidung durchzuhalten nicht durchgesetzt hätte.
Bei anderen Schlüsselentscheidungen spielten der Starrsinn und die Macht einzelner Personen eine weit problematischere Rolle. Hitler ließ keinen Zweifel, wer seine Hauptfeinde waren: das europäische Judentum und der Bolschewismus. Den Pakt mit Stalin schloss er nur, um sich den Rücken frei zu halten beim Westfeldzug. Der Entschluss, die Sowjetunion im Frühjahr oder Sommer 1941 anzugreifen, fiel bereits im Juli 1940 im Siegesrausch. Den unerhört raschen Vormarsch in der Sowjetunion verdankte die Wehrmacht aber nicht nur der besseren Ausrüstung, sondern auch dem Starrsinn und den einsamen Entschlüssen Stalins. Trotz ebenso klarer wie vielfältiger Warnungen erwartete er einen Angriff erst für 1942 und blieb in der ideologischen Vorstellung befangen,
"dass die westlichen Demokratien einen Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion entfachen,"
und die beiden Diktaturen sich gegenseitig besiegen lassen wollten. Für solche katastrophalen Fehlentscheidungen sind Diktaturen viel anfälliger als Demokratien. Das gilt auch für Mussolinis Abenteuer, am 28.Oktober 1940 - im Windschatten von Hitlers Siegen im Westen - Griechenland zu überfallen. Kershaw schreibt:
"Ein schneller Sieg in Griechenland würde das Gleichgewicht zwischen den Diktatoren wiederherstellen, sein eigenes Ansehen steigern und Italien endlich einen gewissen Anteil an der Kriegsbeute einbringen."#
Der vermeintliche "Spaziergang", wie Mussolinis Außenminister Graf Galezzo Ciano meinte, kostete 150.000 italienischen Soldaten das Leben. Die Idee eines "Parallelkrieges", in dem Italien ein eigenes Reich erobern wollte, war als Hirngespinst eines ehrgeizigen Diktators entlarvt worden.
Zu ganz schwierigen Schlüsselentscheidungen wurde der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt gezwungen. Er gewann den Wahlkampf 1940 mit dem Versprechen, keine amerikanischen Soldaten in den "europäischen Krieg" zu schicken. Kurz danach beherrschte Hitler ganz Europa. England wankte, aber die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung sah darin - noch - keine Gefahr für das eigene Land und lehnte Hilfe an das bedrohte Land ab. Roosevelt musste fintenreich taktieren, das heißt nach Kershaw:
"Helfen, um Amerika aus dem europäischen Krieg herauszuhalten, nicht um es in ihn hineinzuziehen. Es war die Schlüsselentscheidung - eine der wichtigsten des gesamten Krieges - für ein Programm, das nicht weniger als eine Erklärung des Wirtschaftskrieges gegen die Achse darstellte."
Diese Entscheidung im Dezember 1940, nicht erst der formelle Kriegseintritt der USA ein Jahr später, brachte die Wende im Kriegsgeschehen. Aber auch bei dieser, wie bei den anderen Schlüsselentscheidungen gab es Alternativen, denn die oppositionellen Republikaner verfolgten mehrheitlich einen stramm isolationistischen Kurs und hätten Roosevelt in Bedrängnis bringen können. Verglichen mit Roosevelt und Churchill hatten die Diktatoren in Europa sehr viel mehr Autonomie und Entscheidungsspielräume – auch für irrationale Entscheidungen.
Zu den Vorzügen des Buches gehört, dass Kershaw - trotz seiner Leitfrage nach Alternativen - nicht ins Spekulative oder ins bodenlose "Was-wäre-wenn" abdriftet, sondern nur realistische Optionen kritisch analysiert. Der Autor vermittelt Fachhistorikern wie historisch Interessierten Einsichten nicht nur in Schlüsselentscheidungen, sondern lenkt auch den Blick auf deren Vorgeschichte, deren Folgen und deren ökonomische und politische Bedingtheit.
Ian Kershaw: Wendepunkte - Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008

Ian Kershaw: Wendepunkte© Deutsche Verlags-Anstalt