Scheitern auf ganzer Linie

Besprochen von Katja Wilke · 28.07.2013
Winfried Ridder kennt den deutschen Verfassungsschutz von innen - und stellt seinem ehemaligen Arbeitgeber ein vernichtendes Zeugnis aus. Er benennt dessen analytische und operative Schwächen und fordert, die Bekämpfung des gewalttätigen Extremismus allein der Polizei zu überlassen.
Der Befund ist niederschmetternd: Nach 40 Jahren Arbeit in der Terrorismusabwehr sei die Bilanz des deutschen Verfassungsschutzes eindeutig von Niederlagen bestimmt, in entscheidenden Fällen habe die Behörde versagt. Zu diesem Ergebnis kommt Wolfgang Ridder in seinem Buch "Verfassung ohne Schutz".

Kritik am Verfassungsschutz ist dieser Tage allgegenwärtig: Die Mordserie des rechtsextremistischen NSU hat die Behörde verschlafen und ist damit einer Kernaufgabe – der Terrorismusabwehr – nicht nachgekommen.

Auch in Sachen Spionageabwehr zeichnen sich die Verfassungsschützer durch Ahnungslosigkeit aus: Dass ausländische Geheimdienste die Kommunikation in Deutschland im großen Stil überwachen, wurde entweder übersehen oder hingenommen - und möglicherweise sogar gutgeheißen.

Ungewöhnlich ist in diesem Fall, dass die Kritik von einem Insider kommt: Ridder war lange Jahre Chefauswerter für das Bundesamt für Verfassungsschutz. Er kennt seinen ehemaligen Arbeitgeber genau und benennt schonungslos dessen analytische und operative Schwächen.

Dabei spannt er einen weiten Bogen. Denn mit den NSU-Morden schließe sich ein Kreis schwerster Straftaten, die nicht verhindert werden konnten, meint der Autor: Vom Anschlag in München 1972 über die RAF-Attentate bis hin zu der Tatsache, dass der Verfassungsschutz den früher in Hamburg lebenden Mohammed Atta und seine Gruppe vor den Attentaten vom 11. September 2001 in keiner Weise auf dem Radar hatte. Ridder räumt zwar ein, dass der Verfassungsschutz auf den linken und islamistischen Terrorismus nicht ausreichend vorbereitet sein konnte - zumindest in dessen Entstehungsphase.

"Ganz anders stellt sich die Situation für das rechtsextremistische Spektrum dar. Hier hatte der Verfassungsschutz von Beginn an gleichsam eine 'Kompetenz-Kompetenz'. Schon unmittelbar nach seiner Gründung im Jahr 1950 waren 'Rechtsextremistische Bestrebungen' der Schwerpunkt seiner Tätigkeit. Umso erstaunlicher ist sein Versagen 60 Jahre später. In keinem anderen Beobachtungsfeld hätte sich so viel Erfahrung und Kompetenz herausbilden können."

Dem Verfassungsschutz gelang es Ridder zufolge weder, Entwicklungen vorherzusehen noch war er in der Lage, im Nachhinein zur Aufklärung beizutragen. Der Autor zieht ein vernichtendes Fazit:

"Der Zeitpunkt ist daher gekommen, aus dieser bitteren Erfahrung die Konsequenzen zu ziehen. Es spricht angesichts der Erfolglosigkeit der Geheimdienste alles dafür, endlich den Dualismus von Polizei und Verfassungsschutz in der Terrorismusbekämpfung aufzulösen und damit Verantwortung für die Abwehr terroristischer Gewalt zu übertragen. Trotz der schweren Fehler, die auch von den Länderpolizeien begangen wurden."

Versagen am Beispiel der RAF erläutert
Die Bekämpfung des gewalttätigen Extremismus gehöre allein in die Hand der Polizei – ein mutiger Reformvorschlag, der allerdings auch Erinnerungen an die Machenschaften der Gestapo weckt. Mit anderen Vorschlägen bewegt sich Ridder auf weniger vermintem Terrain: Der Ex-Geheimdienstler plädiert für die Abschaffung von V-Leuten. Terroristischen Kleinstgruppen sei mit deren Einsatz nicht beizukommen:

"Eine Quelle, die aus dem terroristischen Unterstützerbereich gewonnen wird, wird immer in einen unlösbaren Identitätskonflikt geraten. Sie wird nie ganz auf der Seite des Staates stehen, weil sie sich immer auch zugleich den politischen Zielen 'ihrer Gruppe' verpflichtet fühlen wird. Der Staat wird einer Quelle also nie ganz vertrauen können, und andererseits setzt der Staat eine Quelle einem Risiko aus, das er nicht vertreten kann. Die Geheimdienste und die Politik müssen erkennen, dass das klassische V-Mann-Konzept nicht mehr vertretbar ist."

In der Politik findet aber auch dieser bemerkenswerte Vorschlag wenig Anklang. Im Gegenteil: Die Reformen, die Innenminister Hans-Peter Friedrich und Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen Anfang Juli in Berlin vorstellten, wirken geradezu banal: Die Behörde konzentriert sich demnach künftig auf gewalttätigen Extremismus. Und den Einsatz von V-Leuten sowie die Vernichtung von Akten und die Zusammenarbeit mit den Ländern sollen neue Vorschriften regeln. Ach ja: Man will auch mehr "über den Tag hinaus" denken, heißt es blumig.

Ridders Zeit als Referatsleiter beim Verfassungsschutz endete zwar vor bald 20 Jahren. Seine Ausführungen haben aber nichts an Aktualität eingebüßt. Vielmehr verdeutlichen sie, dass das Amt schon vor vielen Jahren eine Generalüberholung nötig gehabt hätte.

Im Kern belegt Ridder dies, indem er das Versagen des Geheimdienstes bei der Bekämpfung der RAF schildert. Das liegt nahe, denn Ridder wurde in dem im vergangenen Jahr abgeschlossenen Prozess gegen das ehemalige RAF-Mitglied Verena Becker als Zeuge vernommen.

Das nahm er zum Anlass, den so genannten Deutschen Herbst 1977 noch einmal gründlich aufzuarbeiten: die Morde der RAF an Generalbundesanwalt Siegfried Buback, am Dresdner-Bank-Chef Jürgen Ponto und an Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer sowie die Entführung der Lufthansa-Maschine "Landshut". Bei allem berücksichtig Ridder besonders die Rolle der Geheimdienste.

"Noch heute ist mehr als rätselhaft: Wie konnte es sein, dass eine Terrorgruppe derart leichtfertig mit einer geradezu buchhalterischen Weise gleichermaßen ihr Innenleben und ihre ‚militärischen‘ Angriffsziele protokollierte und an den konkreten Planungen auch dann noch festhielt, als sie den Sicherheitsbehörden bekannt waren?"

Die RAF hatte einen konkreten Arbeitsplan erstellt, den die Sicherheitsbehörden in die Hände bekamen. Sie hätten deshalb seit Ende 1976 gewusst, mit welchen Anschlägen zu rechnen sei, schreibt Ridder. Und bilanziert:

"Die operative Schwäche der Geheimdienste hätte sich durch ein hohes Maß an analytischer Kompetenz partiell kompensieren lassen."

Welche Fehler Ridder selbst in den langen Jahren seiner Tätigkeit gemacht hat, erfährt der Leser leider nicht. Ein wenig mehr Selbstkritik hätte das Buch des früheren Geheimdienstlers noch glaubwürdiger wirken lassen.

Unterm Strich ist sein Werk aber ein wertvoller Beitrag zu einer Diskussion, die dringend geführt werden muss, und zwar: Welche Art von Geheimdiensten wir in Deutschland haben wollen - und welche Reformen dafür wirklich nötig sind.

Cover: Winfried Ridder "Verfassung ohne Schutz. Die Niederlagen der Geheimdienste im Kampf gegen den Terrorismus"
Cover: Winfried Ridder "Verfassung ohne Schutz. Die Niederlagen der Geheimdienste im Kampf gegen den Terrorismus"© dtv München
Winfried Ridder: Die Niederlagen der Geheimdienste im Kampf gegen den Terrorismus
dtv München, 2013
160 Seiten, 13,90 Euro