"Schauspieler muss man wie Vieh behandeln"

Er plünderte Literaturvorlagen, schrieb eigene Tondrehbücher und orientierte sich an Picasso. Das Buch "Hitchcock und die Künste" zeigt, wie der "Master of Suspense" Architektur, Literatur, Musik und Malerei verarbeitete. Und wie rücksichtslos er manchmal mit Schauspielern umgesprungen sein soll.
Wie kaum ein anderer Regisseur widmete sich Alfred Hitchcock der Titelsequenz, versuchte in Kooperation mit Designern wie Saul Bass oder Oscar Sala in etwa 90 Sekunden das Filmthema zu umreißen: Im Fall von "Die Vögel" sind es die Krähen, die für die Angst vor Katastrophen allgemein stehen; und die später im Film wie kleine Bomben vom Himmel fallen. Das Buch geht darauf explizit ein, wie Alfred Hitchcock einerseits immer das visuelle Erzählen ins Zentrum seiner Arbeit stellte, sich andererseits aber intensiv der Tonkomposition widmete, wie Herausgeber Henry Keazor betont: Türklopfen, schlagende Fensterläden, das Flattern von Vögeln – nie hatten diese Geräusche nur atmosphärische Gründe.

Henry Keazor: "Dass jemand tatsächlich auf der Ebene des Thrillers und im Mainstreamkino so akribisch mit dem Ton arbeitet, dass er regelrecht eine Partitur entworfen hat, das ist in der Tat schon relativ singulär.""

Besondere Aufmerksamkeit verdient das Kapitel, das sich Hitchcocks Interesse für Architektur widmet. Weisen Kritiker im Allgemeinen darauf hin, dass der Filmemacher gern berühmte Gebäude nutzte, weil sie groß und bekannt waren und zuweilen auch Exklusivität ausstrahlen, man denke nur an das British Museum in London, die Alte Nationalgalerie in Berlin oder das UN-Gebäude in New York, geht Henry Keazor in seiner Analyse tiefer.

Keazor: "”Bei Hitchcock sind Sachen oft doppel codiert. Denn er setzt die Sachen ja gerade entgegengesetzt ein. Das heißt an der Freiheitsstatue ereignet sich dann ein spektakulärer Absturz, ins British Museum stürzt jemand durch die Kuppel hinein. Also genau die Dinge, die wir mit diesen Gebäuden und Strukturen assoziieren, passieren gerade nicht. Also einen Ort der Kultur wie ein Konzert wird zum Schauplatz eines geplanten Attentats."

Zuweilen musste er von seinen ursprünglichen Ideen Abstriche machen. So bei der Verfolgungsszene am Mount Rushmore, wenn sich Cary Grant und Eva Marie Saint in "Der unsichtbare Dritte" bei den steinernen Präsidenten verstecken.

"Was sollen wir bloß tun? / Da runter klettern. / Ach, das ist doch unmöglich. / Da sind sie schon. Wir haben gar keine andere Wahl."

Alfred Hitchcock: "Die Regierung machte uns sehr deutlich, dass die Schauspieler nur bis zu den Köpfen der Präsidenten durften. Weil dieses Kunstwerk eine Art Schrein der Demokratie sei. Aber eigentlich wollte ich, dass Cary Grant die Nase von Lincoln herunter klettert, sich dann im Nasenloch versteckt und dort einen Niesanfall bekommt."

Der Aspekt der bildenden Kunst ist im Buch vor allem Picasso, Salvador Dalí und Vermeer gewidmet beziehungsweise ihren Einflüssen auf Hitchcocks Kino. Dabei zeigt der Autor Thierry Greub zum Beispiel, dass Tippi Hedren als Kleptomanin in "Marnie" vor dem Tresor wie die "Stehende Virginalspielerin" in Vermeers Gemälde inszeniert ist. Und Henry Keazor ergänzt:

Keazor: "Es gibt eben auch Bilder von Vermeer, die tatsächlich diesen stillgestellten Moment mit einer großen Spannung erfüllen. Wenn sie an die Perlenwägerin denken. Wo wir ganz viele Signale bekommen, dass es hier auch um eine symbolische Ebene geht. Dass es hier nicht nur um das Wägen von Gegenständen geht, sondern auch das Wägen einer Seele, also eines Schicksals."

Rücksichtslos hingegen plünderte Hitchcock Literaturvorlagen: Oft übernahm er nur die Grundstruktur oder einzelne Ideen, um daraus ein eigenes Werk zu schaffen. Nie versuchte er, der Literaturvorlage möglichst nahe zu kommen. Vielmehr zählte für ihn nur das große Ganze, dem sich alles unterordnen musste. Das galt sogar für die Schauspieler.

Keazor: "Das geht sogar so weit, dass ihm seitens der Schauspieler nachgesagt wurde, dass er sie eigentlich überhaupt nicht schätzt. Es gibt da eine Anekdote, wo eine Schauspielerin angeblich eines Tages zwei Kühe mit ins Studio gebracht hat. Und als man sie gefragt hat, warum, hat sie gesagt: Ja, Hitchcock sagt doch immer: Schauspieler muss man wie Vieh benutzen und wie Vieh behandeln."

Was nicht heißt, dass er ihnen nicht immer wieder geniale Momente schenkte.

Ich heiße Jack Philipps. Verkaufsleiter der Westküste für Kühlschränke. / Haben Sie sich nicht geirrt? Sie sind Roger Thornhill aus New York. Und auf jeder Titelseite in Amerika steht, dass Sie wegen Mord gesucht werden. Seien Sie also nicht so bescheiden!

"Hitchcock und die Künste" ist der äußerst gelungene Versuch zu zeigen, wie akribisch er alle Aspekte des Filmemachens verinnerlichte und dabei sogar eigenständige Tondrehbücher schrieb; wie er die Situation seiner Charaktere durch die Gestaltung der Räume betonte, und dass er Komponisten zu den Dreharbeiten lud, um sie mit den Szenen und seiner Intention vertraut zu machen. Kurz, Hitchcock verstand das Filmemachen immer als Gesamtkunstwerk. Und seine Einflüsse sind sogar in heutigen Videoinstallationen zu sehen. Und schließlich erkennt der Leser, wie Hitchcock mit einem langsamen Kameraschwenk eine ganze Geschichte erzählt, während sein Protagonist nicht einmal durch das Fenster zum Hof blickt.


Besprochen von Bernd Sobolla

Henry Keazor: "Hitchcock und die Künste"
Schüren Verlag, Marburg 2013
220 Seiten, 19,90 Euro