Schattenseiten einer Lichtgestalt

Rezensiert von Philipp Gut · 07.11.2010
Der Star-Architekt Le Corbusier stellte sich in den 30er und 40er-Jahren in den Dienst des Faschismus. Er pflegte intimste Beziehungen zum französischen Vichy-Regime, bewunderte Hitler und Mussolini. In einer ersten ausführlichen Biografie stellt Nicholas Fox Weber die dunklen Seiten des Designers ungeschönt dar.
Wer kennt ihn nicht: Le Corbusier, den grossen schweizerisch-französischen Architekten und Designer. Seine Wohnblocks und Villen fehlen in keinem anständigen Reiseführer, die berühmte Marienkapelle im französischen Ronchamp ist zu einem Wallfahrtsort für Kunstgläubige aus aller Welt geworden. Viele mögen gar ein Stück von Corbusier besitzen: Sei es die elegante Liege, seien es die wuchtig-weichen Sitzquader mit bevorzugt schwarzem Lederüberzug.

Etwas weniger bekannt dürfte der Architekt unter seinem bürgerlichen Namen sein. Le Corbusier wurde am 6. Oktober 1887 als Charles-Edouard Jeanneret in La Chaux-de-Fonds geboren, einer zugigen Gebirgsstadt im Schweizer Jura. Die Karriere von Le Corbusier verlief erstaunlich: Ohne je ein Architektendiplom erworben zu haben, setzte sich der ehrgeizige, hagere junge Mann mit der runden Intellektuellenbrille in Paris durch. Und von dort aus eroberte er die Welt. Manche halten ihn heute für den größten Architekten des 20. Jahrhunderts.

Doch auf die Lichtgestalt der Moderne fallen Schatten. Le Corbusier stellte sich in den 30er und 40er-Jahren in den Dienst des Faschismus. Er pflegte intimste Beziehungen zum französischen Vichy-Regime, das nach der Eroberung Frankreichs durch Hitler-Deutschland mit den Nazis kollaborierte. Mehr noch: Le Corbusier bewunderte Mussolini und Hitler, und er verachtete die Juden.

Es ist das Verdienst des amerikanischen Publizisten Nicholas Fox Weber, diese dunklen Seiten im Leben der Architektur-Ikone detailliert und ungeschönt dargestellt zu haben. Sachlich, ohne jeden denunziatorischen Gestus, schildert Fox Weber in der ersten ausführlichen Biografie des Architekten, wie sich Le Corbusier den faschistischen Granden andiente – stets in der Hoffnung auf städtebauliche Großaufträge.

Die entscheidende Begegnung spielte sich im Frühjahr 1941 ab:

Am 29. März traf Le Corbusier einen hochgestellten Vertreter des Vichy-Regimes – "denjenigen, der die Macht hat, über die Baupläne in ganz Frankreich zu befinden", wie er an seine Mutter schrieb. Corbusiers Traum wurde wahr: "Zu unserem freudigen Erstaunen", heisst es in dem Brief, "erklärte er seine Bereitschaft, unsere Organisation zu nutzen und sie als sein Organ der Inspiration zu betrachten." - Dann berichtete Corbusier seiner Mutter, es sei "Le M." höchstpersönlich gewesen, der ihm in die Augen geschaut und ihm versichert habe, dass er von der Regierung mit allen vorhanden Mitteln unterstützt würde. "Le M.", das war mit grösster Wahrscheinlichkeit Vichy-Führer Henri Pétain selber. Le Corbusier nannte seinen Namen zwar nicht, aber "Le M." war eine gebräuchliche Bezeichnung für "Le Maréchal", den Marschall – in der Tat "derjenige", der die "Macht" hatte. – Le Corbusier benutzte einen seiner ultimativen Ausdrücke der Freude: "Der Horizont ist klar." Endlich würde er erreichen, wofür er 20 Jahre lang gekämpft hatte. (S. 434)

Die Zeit des endlosen Antichambrierens schien ein Ende zu haben. Er klopfe "unermüdlich, Tag für Tag, an eine Tür nach der andern", hatte Corbusier im August 1940 notiert. Jeder Kontakt mit Angehörigen des Regimes war ihm willkommen. Eine eher bizarre Annäherung ergab sich an Admiral François Darlan, einen fulminanten Antisemiten, der überzeugt war, dass Frankreich Teil eines nationalsozialistischen Europa werden sollte. Le Corbusiers Schnauzer Pinceau wurde ausersehen, die Hündin von Darlans Sohn zu decken. Zu diesem Zweck wurden die Tiere in Darlans Garage eingesperrt, doch Pinceau verweigerte seinen Dienst, zwei volle Tage lang. Fox Weber:

Beschäftigt mit diesen Potenzproblemen, beunruhigte den Architekten mehr die Widerspenstigkeit seines Hundes als die Frage, wer der Admiral war. (S. 417)

Man kann das allgemeiner fassen: Le Corbusier war ein fulminanter Egomane, der die Tragödien, die sich um ihn herum abspielten – die persönlichen und die historischen – nur am Rande wahrnahm. Als Hitlers Truppen am 10. Mai 1940 Frankreich überfielen, phantasierte er von einer "Verbesserung der Welt". Am 31. Oktober 1940, dem Tag, an dem Marschall Pétain die Parole der "Kollaboration" mit Nazi-Deutschland ausgab, schrieb Le Corbusier seiner Mutter:

"Wenn es ihm mit seinen Ankündigungen ernst ist, kann Hitler sein Leben mit einem grossartigen Werk krönen: der Neugestaltung Europas."

Der Satz war kein Ausrutscher, sondern die logische Konsequenz eines Trachtens und Strebens, das die eigenen architektonischen Pläne über alles stellte. Biograf Fox Weber spricht in diesem Zusammenhang von Corbusiers "Tunnelblick". Es handelte sich um eine Art Interessengemeinschaft, deren fatale Seite er erstaunlich effizient ausblendete: Wie die faschistischen Herrscher und Diktatoren, wollte auch Le Corbusier ein "neues Europa" bauen – mit architektonischen Mitteln.

Er gab sich nie damit zufrieden, Villen und Möbelstücke zu entwerfen. Seine eigentliche Utopie war der Urbanismus: Er wollte das Erscheinungsbild ganzer Städte verändern, radikal. Und dazu schienen ihm die mit nie geahnter Machtfülle ausgestatteten Führer des totalitären Zeitalters die politischen Voraussetzungen zu liefern. Zum Glück für ihn ist es anders gekommen, als er es sich erhofft hatte: Sonst wäre Le Corbusier, dieser strahlende Apostel des Evangeliums der Moderne, zu einem Großbaumeister des Faschismus geworden. Da er auch für Stalin Pläne entwarf, hätte er das einmalige Kunststück fertig gebracht, für alle großen Diktatoren der Zeit gleichzeitig zu bauen.

Am Ende der Lektüre überrascht eigentlich nur eines: Dass die hervorragende Biografie noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde.

Nicholas Fox Weber: Le Corbusier. A Life
Verlag Alfred A. Knopf, New York