Schamanismus in Kanada

Neues von Mutter Erde

Ein Gast auf dem Pow Wow in Ontario, im Hintergrund tanzende Mädchen.
Ein Gast auf dem Pow Wow in Ontario. © Oranus Mahmoodi / Holger Meyer
Peter Kaiser · 06.01.2019
Über Jahrhunderte wurden die Angehörigen der First Nations in Kanada in ihren Traditionen massiv eingeschränkt: in ihren Ritualen, ihren Liedern, ihrer Sprache. Das hat sich geändert. Der traditionelle Schamanismus kommt zurück.
"Alles was wir tun müssen als Menschen, um in Kontakt zu kommen, ist einen Kreis zu bilden. Keiner ist vor uns und keiner ist hinter uns. Und wenn wir zusammenstehen, und in uns schauen, dann haben wir ein gutes Gemeinschaftsgefühl."
Als die Gruppe in einem Kreis steht, breitet Alan, der kanadische Blackfoot-Creek-Waldläufer, eine Decke auf dem Waldboden aus.
"Hier habe ich eine Decke in vier Farben. Schwarz, Rot, Gelb und Weiß. Und das Besondere ist, nirgendwo sieht man diese Farben gemeinsam, immer nur als Schatten, oder in Variationen, aber nie so in diesem Zusammenhang. Wir beginnen mit Rot. Wenn wir an uns denken, ist das Erste, was wir sehen, rot. Wenn man vor dem Sonnenaufgang aufwacht, sieht man dieses Rot, das für den Durchgang steht, die Türöffnung nach Osten hin."

Durchgänge zwischen den Welten

Von diesen "Doorways", Durchgängen, ist an diesem Tag immer wieder die Rede. Nicht nur bei Alan, dem Waldläufer in einem Wald nahe Ontarios Hauptstadt Toronto. Von Durchgängen wird auch auf dem POW WOW gesprochen, der Versammlung der Indianerstämme in Ontario. POW WOW – übersetzt heißt das so viel wie "spiritueller Führer des Krieges" – sind heute eher Ausdruck des neuen Selbstverständnisses der "Native Americans", oder der "First Nations" Kanadas. Das wird auch in einem Gedicht zu "Mutter Erde" deutlich.
"Mutter, warum hörst du mich nicht?
Ich habe nichts außer Liebe für dich."
Auf dem POW WOW tanzen die Männer den Grastanz, die Frauen den Jingle-Dress- oder Glöckchenkleid-Tanz. Er hat seinen Namen von den bis zu 700 Glöckchen an ihren Kleidern. In den Gesichtern der Männer und Frauen ist zu erkennen, wie stolz sie sind, zu den First Nations zu gehören.
"Du gibst mir mehr, als ich brauche, du lehrst mich, mehr und mehr, du kennst meinen Schmerz und meine Schreie."
Am Rand der Tanzfläche, meist Rasen oder Prärie, wird geraucht, gegessen, erzählt, gesungen. Weise Frauen wie Mary vom Bären-Clan verkaufen kleine, weiße Medizinsäckchen.
"In den Medizinsäckchen sind bestimmte Gräser und Steine, die eine bestimmte spirituelle Atmosphäre schaffen. Es sind mehr Glückssäckchen. Ich stecke viel von der traditionellen Medizin hinein, und verkaufe es dann."
Sie habe das Wissen von ihrem Vater geerbt, berichtet die ältere Frau. Im Wesentlichen gehe es dabei um allgegenwärtige Energie, um jene spirituelle Energie, die Mutter Erde für uns bereithält.

Auf der Suche nach guter Energie

"Wir glauben, dass immer eine gute Energie um uns ist. Wenn wir ‚spirituell‘ sagen, meinen wir, dass alle guten Energien in dein Haus kommen, und du hast somit eben diese gute Energie um dich herum. Wenn du eine gute Energie in deinem Haus hast, kannst du sie verteilen, je nachdem, wie du es brauchst. Ich schaffe eine Art Grundlage für dieses Verteilen, damit du besser mit Mutter Erde verwurzelt bist. Wenn ich einen schlechten Tag habe, dann beobachte ich mich und versuche die schlechte Energie loszuwerden."
Auch wenn sie selbst krank sei, sagt Mary, helfe ihr diese Medizin. Und der spezielle Glauben ihres Clans.
Auch Alan, der Blackfoot-Creek-Indianer, weiß von dieser spirituellen Energie.
"Spiritualität ist Energie. Energie ist um uns. Es gibt keine Plätze, wo man Energie sehen kann, Energie ist überall. Will man Energie sehen, muss man sie sich vorstellen. Sie ist in allen Elementen. Und der Geist in uns ist die Kraft. Und das gibt uns Leben. Jeder von uns hat das Geschenk des Lebens. Weil wir doch sehen, diese Welt ist negativ, und die andere Welt ist positiv. Und der Energietransfer von der einen zur anderen Welt geschieht ständig."
Jede Energie, jedes Element, alles kommt vom Kitchi Manitou.
"Kitchi Manitou ist die allergrößte Erscheinung, er ist ein großes Geheimnis, es ist kein Mann oder eine Frau, es ist ein Konzept, eine Imagination. Aber dann wurden die einzelnen Manitous erschaffen, um die Prinzipien des Lebens zu regieren. Leben zu nehmen, Leben zu geben, die Winde, die wehen, das Licht, das sich im Ozon bildet. Diese Manitous haben die Macht alles zu kontrollieren was ist. In unserer Welt haben wir vier Manitous. Sie sind regierende Kräfte. Sie bringen die Veränderung, die Bewegung in die Welt. Und so haben wir den östlichen, südlichen, westlichen und nördlichen Manitou."
Und diese vier regieren die Elemente Feuer, Licht, Wasser und Erde, und schaffen eben die "Doorways", die Durchgänge.

Pflanzen bahnen den Weg zwischen den Welten

"Der Weg zu den Elementen sind die Pflanzen. Jede hat einen Namen, ein Lied, einen Zweck, einen Platz in der Schöpfung. Nicht für sich selbst, sondern für die Gemeinschaft. Und wenn jedes Jahr die Pflanzen sterben, geben sie ihre Nährstoffe und Mineralien wieder an die Gemeinschaft zurück, so dass neues Wachstum geschehen kann. So sind die Durchgänge, Nehmen und Geben."
Die Pflanzen, betont Alan, haben eine zentrale Bedeutung.
"Pflanzen wirken auf verschiedenen Wegen. Du kannst sie essen. Ein anderer Weg ist sie aufzutragen, du kannst sie auch verbrennen, dann bekommst du Medizin, die dabei freigesetzt wird. Hier haben wir vier geheime Pflanzen: Tabak, Zedern, Salbei und Süßgras. Aber es gibt tausende Pflanzen, die ihren Zweck haben. Süßgras ist das älteste Gras, das auf der Erde wächst. Es ist das erste Haar von Mutter Erde."
"Und von den Pflanzen geht es zu den Tieren, alle Tiere haben eine Beziehung zu Pflanzen, etwa die Bienen. Diese kleinen Insekten machen eine so wichtige Arbeit, das haben viele Menschen vergessen, genau wie die Arbeit von Ameisen oder anderen Tieren."
Der Medizinmann Garry Su nutzt das alte Wissen der kanadischen First Nations um seinen Stammesangehörigen zu helfen.
"Die Pflanzen. Alles ist Medizin, sie ist um uns herum. Auch das Wasser. Es ist ein Heiler an sich. Wir wissen das, und verarbeiten es um zu heilen."
Am Ende des hatten viele noch das Gedicht über Mutter Erde in den Ohren, das für manche heute geradezu prophetisch klingen mag.
"Ich sorge für dich, so lange ich kann. Wenn der Fluss nicht mehr fließt, wenn die Bäume sterben, wenn der Wind aufsteht und die Stürme kommen, das ist das Ende der Liebe."
Mehr zum Thema