Sayed Kashua: "Lügenleben"

Parabel auf das heutige Palästina

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Cover des Romans "Lügenleben" von Sayed Kashua, dahinter ein Bild einer Siedlung im Westjordanland.
Sayed Kashua ist im Grenzgebiet zum Westjordanland aufgewachsen und selbst später in die USA ausgewandert © Berlin Verlag / AFP
Von Carsten Hueck · 04.04.2019
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Said schreibt zum Broterwerb die Erinnerungen anderer auf - aber daheim in Israel holen ihn die eigenen ein: In "Lügenleben" erzählt der Autor Sayed Kashua die doppelbödige Lebensbeichte eines Mannes, der ihm selbst nicht unähnlich ist.
Von Tolstoi ist der Satz überliefert, es gebe nur zwei Konstellationen für eine gute Geschichte: Entweder ein Mensch kommt nach Hause oder er kommt in eine fremde Stadt. Der israelische Autor Sayed Kashua kombiniert sie: Sein Ich-Erzähler Said ist einer, der nach Hause kommt, jedoch als Fremder.
Vor mehr als zehn Jahren hat er Tira, ein Dorf in der Nähe von Tel Aviv, verlassen, um mit seiner frisch angetrauten Ehefrau in die USA zu ziehen. Mittlerweile hat das Paar drei Kinder, sie arbeitet an der Universität, verdient das Geld, er schreibt als Ghostwriter Erinnerungsbücher – Biographien unbedeutender Menschen, die er so ausgestaltet, dass ihr Leben besonders erscheint.

Die Heimat wird zur Fremde

Als Said die Nachricht erreicht, seine Vater läge im Krankenhaus, reist der Sohn aus dem kalten "Rust-Belt"-Staat Illinois nach Israel. Der Zeitunterschied beträgt acht Stunden – doch als er ankommt, bemerkt Said, dass er all die vergangenen Jahre dazu addieren muss – seine alte Heimat, nach der er sich in der Fremde so verzehrt hat, ist ihm fremd geworden. Und während er nun am Krankenbett des Vaters sitzt, steigen die Erinnerungen an sein bisheriges Leben in ihm auf.
In loser Folge, immer ausgelöst von kleinen Dingen wie der Farbe des Tees im Glas, einem vorbeiziehenden Geruch, einer kurzen Begegnung oder einem Satzfetzen, der ihm plötzlich in den Sinn kommt, beginnt er dem Leser zu erzählen, was alles geschah: wie es um seine Ehe bestellt und warum er all die Jahre zuvor nicht zurückgekehrt ist. Wie es sich anfühlt, Araber in Israel zu sein. Oder in den USA.

Lebensbeichte mit doppeltem Boden

Es entsteht das Porträt eines Mannes, der ab sofort als einer der großen Einsamen der Literatur zu gelten hat. Der einst, begabt und vielversprechend, am Anfang einer journalistischen Karriere stand, durch Zufall und ohne eigenes Zutun, wie eine Figur Kafkas, schuldig wurde, diese Schuld verinnerlichte und seitdem unsicher, schwermütig und ungeliebt unter demütigenden Umständen sein Leben fristet.
Es gibt niemanden, dem er von sich erzählen kann – außer in Andeutungen dem sterbenden Vater. Über seine Gefühle für das Heimatdorf, den US-amerikanischen Alltag, den Schmerz über das Zerbrechen der Familie, die Zerrissenheit israelischer Araber, die kostbaren Erinnerungsbilder seiner Kindheit und Jugend, erfährt vor allem der Leser etwas. Ihm offenbart sich die Figur.
Porträt von Sayed Kashua, Schriftsteller aus Israel
Der Autor Sayed Kashua© picture alliance / Effigie/Leemage
Kashua bringt in seinem Roman viele Motive subtil miteinander in Verbindung: Schuld und Sühne, Tradition und Moderne, Migration, das arabisch-jüdische Zusammenleben, Identität, Erinnerung. Seine Sprache ist geschliffen und poetisch, die Dialoge sind knapp und vielsagend. Sie wirken tief. Immer wieder erweist sich in diesem Roman die Kraft der Literatur: Sie verändert hier Leben, verschönert und verfälscht, hebt auf und zerstört.

Herausforderung der hebräischen Gegenwartsliteratur

"Lügenleben" ist Bereicherung und Herausforderung der hebräischen Gegenwartsliteratur. Eine Parabel auch auf den derzeitigen Zustand Palästinas, Ausdruck von Schmerz und Hoffnungslosigkeit, ein melancholischer Gesang von der Sehnsucht nach Heimat.

Sayed Kashua: "Lügenleben"
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Berlin Verlag, München 2019
271 Seiten, 24 Euro

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