Sasha Abramsky: "Das Haus der zwanzigtausend Bücher"

Ein Ort der Hoffnung auf Menschlichkeit

Alte Bücher
Alte Bücher in einem Regal in Wales © imago/UIG
Von Carsten Hueck · 23.12.2015
Überall nur Bücher – damit ist der britische Journalist Sasha Abramsky aufgewachsen. Sein verstorbener Großvater hatte einer der größten Privatsammlungen Englands geschaffen und damit auch ein Abbild der gesellschaftlichen Debatten. Enkel Sasha Abramsky erinnert sich.
Jeder Messie hält sich für einen Sammler, aber nicht jeder Sammler ist zwangsläufig ein Messie. Was dem Besucher einer privaten Bibliothek wie ein Wirrwarr aus rissigen Pappdeckeln, schweren Pergamenteinbänden und staubigem Papier vorkommen mag, ist für deren Besitzer bestenfalls Arbeitsplatz, Erinnerungsspeicher und Schatzkammer in einem.
Sasha Abramsky, amerikanischer Autor und Journalist, beschreibt so einen Ort in seinem Buch "Das Haus der zwanzigtausend Bücher": eine kleine Doppelhaushälfte im Norden Londons, in der seine Großeltern lebten.
Systematisch, mit großer Akribie und Leidenschaft erinnert sich der Autor an seine Besuche dort. Und macht klar, dass dieses Haus ein ideengeschichtliches Monument war, eine überbordende Bibliothek mit einzigartigem Inhalt. Jeder Raum, mit Ausnahme von Badezimmer und Küche, beherbergte vom Boden bis zur Decke Regale mit doppelten Bücherreihen. Im Schlafzimmer standen mehr Akten als Kleiderschränke, der Boden war gepflastert mit Bücher- und Zeitungsstapeln.
Auf Regalen, in wasserdichten Plastikbeuteln, befanden sich Manuskripte und Originalholzschnitte der Publikationen des Schriftstellers William Morris, in Vitrinen Hunderte der seltensten sozialistischen Bände und Schriften – Bücher mit Marx‘ handschriftlichen Notizen, Abhandlungen von Trotzki, das Typoskript der Doktorarbeit von Rosa Luxemburg, Dokumente zur Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert.
Über die einzelnen Räume verteilten sich vor allem Kostbarkeiten der Bereiche sozialistischer und jüdischer Geistesgeschichte, darunter Erstausgaben von Spinoza und seltene Talmudausgaben.
Er lernte Revolution, Diktatur und Emigration kennen
Sasha Abramskys Buch ist auch eine Familiengeschichte und die liebevolle Erinnerung an den Großvater, den Herrn im Haus der 20.000 Bücher: Chimen Abramsky, 1916 in Minsk geboren, Sohn eines bekannten orthodoxen Rabbiners. Er lernte Revolution, Bürgerkrieg, Progrom, Diktatur und Emigration kennen. Den Zweiten Weltkrieg und die Shoah. In England arbeitete er als Antiquariatsbuchhändler, später dann, aufgrund seiner enormen Fachkenntnisse, als Berater bei Sothebys.
Er war viele Jahre aktives Mitglied der kommunistischen Partei, aus der er Ende der 1950er-Jahre desillusioniert austrat. Wirkte als Professor für Geschichte und Jüdische Studien und sagte von sich, als er 90 wurde: "Mein einziges Vergnügen besteht darin, ohne Unterlass zu lesen."
Seine Geschichte, das macht der Enkel deutlich, spiegelt sich in seinen Büchern – diese wiederum bezeugen und reflektieren europäische Geistesgeschichte. Sie versteht der Autor als Ausdehnung von Körper und Geist eines lebenslangen Sammlers. Und auch als "portatives Vaterland", als Schutz und Halt in einer Welt ohne Gott, die doch das Bedürfnis nach Glauben nicht aufgeben kann.
Das Haus der zwanzigtausend Bücher, so der Kulturwissenschaftler Philipp Blom in seinem überaus lesenswerten und empathischen Nachwort, sei eine Insel der Utopie in einem Jahrhundert der Katastrophen gewesen. Nicht allein letzter Bote einer bürgerlichen Epoche, sondern ein Ort der Hoffnung auf Menschlichkeit.
Folgt man Sasha Abramsky in allen Verzweigungen durch die büchergepflasterten Räume und das Leben seines Großvaters, so dämmert einem, dass der beständige Daten- und Informationsfluss im weltweiten Netz kein solches Universum zu erschaffen vermag, wie die Bibliothek von Chimen Abramsky.

Sasha Abramsky: "Das Haus der zwanzigtausend Bücher"
us dem Amerikan. von Bernd Rullkötter
dtv, München 2015
375 Seiten, 22,90 Euro