Santiago Amigorena: "Kein Ort ist fern genug"

Das Grauen macht ihn stumm

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Cover von dem Buch "Kein Ort ist fern genug" von Santiago Amigorena.
In "Kein Ort ist fern genug" erzählt Santiago Amigorena von einem Mann, der seine Familie nicht vor den Nazis retten kann. © Aufbau Verlag / Deutschlandradio
Von Dirk Fuhrig · 02.09.2020
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Hilflos erlebt ein Mann im fernen Argentinien mit, wie seine polnische Familie von den Nazis ermordet wird. Santiago Amigorenas neuer Roman erzählt von Verwüstungen, die die Verbrechen des NS-Regimes bei den Angehörigen der Opfer hinterlassen haben.
Santiago Amigorena wurde 1962 in Buenos Aires geboren, seit seiner Kindheit lebt er in Frankreich. Seine Eltern flohen 1973 mit ihm vor der Militärdiktatur aus Argentinien. Er hat Film-Drehbücher geschrieben und - auf Französisch - mehrere Romane veröffentlicht, in denen es häufig um Jugenderinnerungen, um das Schweigen und den Verlust der Muttersprache geht.
"Kein Ort ist fern genug" ist das erste Buch Amigorenas, das ins Deutsche übersetzt wurde. Unter dem Originaltitel "Le ghetto intérieur" - "Das Getto im Inneren" - war es im vergangenen Jahr in die Endauswahl mehrerer wichtiger Literaturpreise in Frankreich gekommen. Das Buch ist explizit autobiografisch, was Amigorena im Epilog erläutert. Der Protagonist ist seinem Großvater nachempfunden.

Ein Pole mit Liebe zur deutschen Literatur

Vicente Rosenberg heißt der traurige Held dieses Romans. Er ist Ende der 20er-Jahre aus Polen nach Buenos Aires ausgewandert - auf der Suche nach einem Leben weit weg von den Zwängen seiner Familie.
Dass er Jude ist, hat für ihn keinerlei Bedeutung. Er war Offizier in der polnischen Armee, fühlte sich als Pole und nach seiner Auswanderung als Argentinier.
Im Grunde seines Herzens bleibe Polen sein Vaterland und Deutschland ein mögliches Paradies, heißt es an einer Stelle. Während des Studiums hatte er die deutsche Dichtung entdeckt: Goethe, Schiller, Hölderlin, Heine.
Den Überfall der Nationalsozialisten auf Polen, die Judenverfolgung und anschließende Vernichtung erlebt Vicente nur indirekt mit, durch Presseberichte und die immer seltener werdenden Briefe seiner Mutter aus Warschau. Die anfängliche ungläubige Verwirrung über das, was in Deutschland und Europa vor sich geht, wird in dem Roman sehr nachvollziehbar geschildert. In einem freien und damals recht wohlhabenden Land wie Argentinien erschienen die Nachrichten über den Holocaust lange Zeit übertrieben oder unglaubwürdig.

Vincente zerfällt körperlich und seelisch

Als Vicente tatsächlich begreift, was mit seiner eigenen Familie in Polen geschieht, ist die Reaktion heftig: Er hört auf zu sprechen, wird zum Schatten seiner selbst, zerfällt körperlich und seelisch, verfällt dem Glücksspiel, will sich umbringen. Er fühlt sich schuldig, seine Mutter nicht stärker dazu gedrängt zu haben, das Land zu verlassen.
"Kein Ort ist fern genug" ist ein tiefenpsychologischer Roman über die Verwüstungen, die der Mord an den Juden bei den Angehörigen ausgelöst hat. Hilflosigkeit gegenüber den Ereignissen in Europa, die Angst um die Familie aus der Ferne, die paradoxe Scham, überlebt zu haben, während die Eltern und Geschwister im Konzentrationslager gequält und umgebracht wurden.
Amigorenas Stil - von Nicola Denis exakt und treffend übersetzt - ist direkt und drastisch. Er leuchtet das seelische Absterben und Verstummen überdeutlich aus, mitunter sehr dick und mit plakativer Emotion.

Antisemitismus in Argentinien

Die starke Konzentration auf die psychische Situation des Protagonisten Vicente lässt die historischen Umstände in den Hintergrund treten. Dass Argentinien eines der Länder war, die am längsten mit dem Nazi-Regime kooperierten, dass es auch in dem südamerikanischen Land erheblichen Antisemitismus gab, was dazu führte, dass jüdische Flüchtlinge aus Europa abgewiesen wurden - all das kommt in diesem Roman kaum zur Sprache.
Dabei ist es ja kein Zufall, dass ausgerechnet Argentinien nach dem Zweiten Weltkrieg zum Zufluchtsort für Nazi-Verbrecher wie Adolf Eichmann oder Josef Mengele wurde.
"Kein Ort ist fern genug" ist ein fesselnder Roman, der erschütternde Einblicke in das Schicksal eines Holocaust-Opfers bietet. Denn natürlich ist auch der in der Distanz leidende Vicente durch die Verfolgung seiner Familie gezeichnet. Zieht man den mitunter melodramatischen Ton ab, so macht dieses Buch deutlich, was der Judenhass der Nationalsozialisten über Jahrzehnte und Generationen hinweg in den Seelen der Opfer angerichtet hat.

Santiago Amigorena: "Kein Ort ist fern genug"
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Aufbau-Verlag, Berlin 2020
184 Seiten, 20 Euro

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