Sammelband "Belarus! Das weibliche Gesicht der Revolution"

Die Frauen der Revolution

06:28 Minuten
Buchcover: "Belarus! Das weibliche Gesicht der Revolution" von Andreas Rostek, Nina Weiler, Thomas Weiler und Tina Wünschmann
Der Erfolg der drei Wahlkämpferinnen in Belarus beruhte auf ihrer Selbstbeschränkung. © edition.fotoTAPETA / Deutschlandradio
Von Sabine Adler · 28.11.2020
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Seit Monaten protestieren die Menschen in Belarus friedlich gegen die Brutalität des Lukaschenko-Regimes. Angeführt wird die Bewegung von Frauen. Ein Sammelband analysiert die Akteurinnen und ihr Vorgehen.
Im patriarchalischen Belarus, in dem der bisherige Präsident Frauen für so schwach hält, dass sie unter dem Präsidentenamt zusammenbrechen würden, arbeiten 84 Prozent der Frauen. Aber sie verdienen fast ein Drittel weniger als die Männer. Dass nun ausgerechnet ein Frauentrio das lange zwar stabile, aber auch gelähmte Land in Aufruhr versetzt hat, lohnt eine ausführlichere Betrachtung.
Der Sammelband vereint rund 30 analytische, auch journalistische Texte, Essays und Gedichte von Autorinnen, zu denen das Verzeichnis am Schluss nähere Informationen liefert. Unter der Rubrik "Dokumente" wurden zudem die bereits veröffentlichten Solidaritätserklärungen der russischen beziehungsweise polnischen Schriftstellerinnen Ludmila Ulitzkaja und Olga Tokarczuk aufgenommen, aber auch Verlautbarungen des Koordinierungsrates der Opposition, dessen Mitglieder entweder ausgewiesen oder inhaftiert wurden beziehungsweise geflohen sind.
Eindrucksvoll, um die Stimmung im Land nachzuerleben, liest sich das Protokoll einer Streikveranstaltung im Minsker Automobilwerk. Angefügt ist zudem eine Chronik der Ereignisse. Die Texte sind nicht streng chronologisch geordnet, sondern entwerfen mosaikartig ein Bild der Entwicklung seit Mai 2020.

Die belarussische Feministin und Frauenrechtlerin Irina Solomatina, die in Litauen lehrende Philosophieprofessorin Tatiana Shchyttsova sowie die Bremer Wissenschaftlerin Olga Dryndova von der Forschungsstelle Osteuropa analysieren die Rolle von Swetlana Tichanowskaja und Veronika Zepkalo beziehungsweise Maria Kolesnikowa. Olga Dryndova schreibt:
"Die drei Frauen standen nun für drei populäre männliche Figuren, nachdem diese nicht zur Wahl zugelassen wurden. Swetlana Tichanowskaja anstelle von Sergej Tichanowski, Veronika Zepkalo anstelle von Valeri Zepkalo und Maria Kolesnikowa anstelle von Viktor Babariko. Durch die Vereinigung der drei Teams holten die Frauen ein Maximum aus ihrer Wahlkampagne heraus, indem sie die Zielgruppen aller drei Kandidaten erreichten. Die schüchterne und liebevolle Tichanowskaja war ein perfekter Prototyp für einen erheblichen Teil der Belarus*innen, die eher die traditionellen Werte teilte – sie wurde eine Art 'politisches Aschenputtel'. Menschen unterstützten sie aus Solidarität, Mitgefühl und Bewunderung für ihren Mut."

Wirkungsvolle Strategie

Der Erfolg der drei Wahlkämpferinnen beruhte auf ihrer Selbstbeschränkung. Im Unterschied zur früheren nationalistisch gesinnten Opposition, die kaum eine nennenswerte Anhängerschaft fand, gingen die Frauen einen anderen Weg. Sie verzichteten darauf, erklärt Tatiana Shchyttsova, eigene Wahlziele zu formulieren, gar eine feministische Agenda aufzustellen, für die es in der geschlechterungerechten belarusischen Gesellschaft genügend Gründe gäbe.
Während Swetlana Tichanowskaja vor allem ihre Rolle als Haus- und Ehefrau sowie Mutter ohne jegliche politischen Ambitionen herausstellte, verkörperten die Microsoft-Managerin Veronika Zepkalo und die welterfahrene Musikerin Kolesnikowa durchaus moderne Frauen, die es gewohnt sind mitzureden. Doch mit ihrer Zurückhaltung gelang den dreien ein viel klügerer Schachzug. Indem sie sich ausschließlich für demokratische Neuwahlen aussprachen, machten sie es ihren Landsleuten leicht, sich hinter ihnen zu versammeln.

Gründe für die Massenproteste

Die Philosophin Olga Shparaga, die selbst zu 15 Tagen Haft verurteilt worden war, widmet sich dem Thema Gewalt. Die Empörung über die Massenverhaftungen und die Folter in den Gefängnissen hat zusätzlich Menschen auf die Straßen getrieben.
"Das Thema Gewalt hat alle im Protest vereint. Die Männer wurden inhaftiert – die Frauen gingen gegen die Willkür der Gewalt auf die Straße. (…) Die Frauen bringen zum Ausdruck, dass diese Gewalt die gesamte Gesellschaft betrifft. (…) Das Plakat für ein Gesetz gegen häusliche Gewalt wurde zum Symbol eines Zustandes, den heute die gesamte Gesellschaft erlebt. In der Figur der Frau, die im patriarchalen System systematischer Gewalt ausgesetzt ist, findet sich heute die Mehrheit der Gesellschaft wieder."
Die Frauen traten bei den Protesten vor die Männer, weil die Polizei sie zunächst nicht schlug und verhaftete. Das hat sich längst geändert. Der hat in dem Sammelband die Poetin Julia Cimafiejeva ihr Gedicht "Der Angststein" gewidmet – der den Höhepunkt der Textsammlung darstellt und so beginnt.
Als Erbstück erhielt ich
meine Angst –
eine Familienreliquie,
ein wertvoller Stein,
weitergegeben
von Generation zu Generation.

Ein Zeitdokument für die Nachwelt

Die meisten Texte schlagen keineswegs euphorische Töne an, sondern vielmehr leise, nachdenkliche, erinnern an innere Monologe in einer ungewissen Zeit, mit viel mehr Fragen als Antworten.
Es ist ein Verdienst der auf Osteuropa spezialisierten edition.fotoTAPETA, trotz der Dynamik der Ereignisse das Buch gewagt haben, denn erstens ist die Momentaufnahme für das Verständnis der Entwicklung interessant. Zudem vermitteln, wenn auch nicht alle, so doch etliche Texte sehr originelle und individuelle Sichtweisen, die weit über den Tag hinaus und in ganz anderen Krisen und Umbruchzeiten Bestand haben.

"Belarus! Das weibliche Gesicht der Revolution"
Herausgegeben Andreas Rostek, Nina Weiler, Thomas Weiler und Tina Wünschmann
edition.fotoTAPETA, 2020
268 Seiten, 15 Euro

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