Salman Rushdie über die USA heute

Vom Versuch, eine verrückte Verfasstheit einzufangen

22:06 Minuten
Der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie.
Salman Rushdie vergleicht sich in seinem neuen Buch gleich mit mehreren Protagonisten. © picture alliance / dpa / Photoshot
Salman Rushdie im Gespräch mit Joachim Scholl · 12.11.2019
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Salman Rushdie beamt in seinem neuen Buch Cervantes' Don Quijote in die USA von heute. Unter vielen weiteren literarischen Referenzen hebt er Franz Kafka hervor: Bei dem seien zwar viele Kapitel komisch, die Gesamtwirkung aber alles andere als das.
Joachim Scholl: Mit dem Roman "Mitternachtskinder" wurde er zum Weltstar. Ein anderes Buch, "Die satanischen Verse" machte ihn zum Gejagten – Salman Rushdie. 1989 verhängte der damalige iranische Ayatollah Khomeini eine Fatwa über ihn, ein religiöses Todesurteil; ein Kopfgeld wurde aufgesetzt, mehr als zehn Jahre lebte der Autor unter schwerster Bewachung. Dennoch hat Salman Rushdie es geschafft, mit zahlreichen weiteren Büchern seine Klasse als einer der besten zeitgenössischen Schriftsteller zu bekräftigen. Jetzt gibt es einen neuen Roman: "Quichotte". Salman Rushdie lebt mittlerweile in New York. Zur Premiere der deutschen Ausgabe ist er nach Berlin gekommen. Wir haben ihn zuerst besorgt gefragt, ob es denn noch größere Sicherheitsbedenken und -vorkehrungen gibt, wenn er auf Reisen geht.
Salman Rushdie: Es gibt keine Sicherheitsprobleme, seit 20 Jahren gibt es nichts dergleichen mehr, seit dieser Zeit ist eigentlich das Kapitel abgeschlossen.
Scholl: Das freut uns sehr zu hören, Mister Rushdie. Mit dem Iran kam es ja schon vor Längerem zu einer diplomatischen Einigung, dass der Staat diese Fatwa nicht mehr offiziell unterstützt, aber ultraorthodoxe, religiöse Stiftungen haben noch vor einigen Jahren das Kopfgeld wieder erhöht. Da denkt man natürlich sofort, die Bedrohung ist immer noch da.
Rushdie: Jeder kann behaupten, vier Millionen Dollar zu zahlen. Die Frage ist dann nur: Hat er das Geld überhaupt? Ich würde aber sagen, wir sollten das Thema abschließen. Seit 20 Jahren ist das für mich in meinem Leben kein Gegenstand mehr.

Die englische Originalversion des Interviews mit Salman Rushdie können Sie hier nachhören:
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Scholl: Dann freuen wir uns, Mister Rushdie, das so von Ihnen zu hören, weil Sie Ihr Leben als Schriftsteller nämlich auch immer unbeirrt, auch während der Zeit der Todesdrohung und anscheinend auch unbeeindruckt fortgeführt haben, wenn man sich die vielen Bücher, die großformatigen Romane, anschaut, die Sie seither geschrieben haben. Kommen wir zum Neuesten: "Quichotte" heißt er schlicht. Da erwecken Sie tatsächlich den großen Don zu neuem Leben in Gestalt eines älteren US-amerikanischen Handelsreisenden mit indischen Wurzeln namens Ismael Smile. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen, Don Quijote wieder zur Literatur zur machen?

Rückgriff auf Cervantes' Don Quijote

Rushdie: Ich wollte schon seit längerer Zeit eine Gesamtschau von Amerika entwerfen. Während ich mich im vorherigen Buch "Im goldenen Haus" auf New York City konzentriert hatte, dachte ich, jetzt muss ich mal raus aus der Stadt. Mir schwebte eine Art Roadmovie oder ein Roadroman vor, ein Thema, das ja eine lange Geschichte in der amerikanischen Kultur hat, von Jack Kerouac angefangen bis hin zu "Easy Rider".
Dieser Wunsch traf zufällig zusammen mit dem Wunsch eines Verlegers, ich möge doch etwas zum 400. Jubiläum von Cervantes schreiben. Ich las also dieses Buch nach langer Zeit wieder einmal, und dann sprang es mich geradezu an: diese beiden Hauptgestalten, Don Quijote und Sancho Panza, neu erstehen zu lassen, nicht genauso wie dort im Roman in meinem Fall, aber doch als eine Art Gesamtschau auf dieses Amerika von heute.
Eines gefällt mir ja besonders an dem Roman von Cervantes: Während er uns das ganze Buch über erzählt, dass sein Hauptheld Don Quichotte verrückt sei, kommt er am Schluss des Buches zu dem Schluss, er sei eigentlich genauso wie er, und er sagt: "Die Welt um uns ist verrückter als ich selbst".

Dulcinea aus dem Fernsehgerät

Scholl: Vor 400 Jahren haben dem alten Don Quijote die damals allgegenwärtigen Ritterromane den Sinn für die Realität vernebelt. Ihr moderner Ritter wird Opfer eines anderen Mediums, nämlich des Fernsehens. In zahllosen Motels schaut Ismael stundenlang TV: Das ist seine Wirklichkeit und dort entdeckt er auch seine Dulcinea namens Salma R., eine Art zweite Oprah Winfrey, eine TV-Queen. Haben Sie diese Heldin auch selbst im Fernsehen entdeckt?
Rushdie: Ich wollte in diesem Buch ein Hauptthema immer wieder bearbeiten, eben die Einwanderer. Die Hauptgestalten, sowohl Quichotte selbst wie auch Selma R., sind ja indischer Herkunft. Selma R. stammt aus Bombay, ich selbst stamme auch aus Bombay, aus dieser filmbesessenen Stadt.
Ich weiß schon einiges über Bollywood, und auch Selma R. kommt ja als Produkt aus Bollywood heraus. Sie schafft als eine von wenigen diesen Schritt von Indien in die westliche Fernsehwelt, zunächst mal als Schauspielerin im Kino und dann als Fernsehstar. Das ähnelt ganz meiner eigenen Geschichte.
Ich stamme ja auch aus Bombay, ihr Name ähnelt dem meinen sehr stark, und insofern ist sie meine Vertreterin in dem Buch. Was mich hier so in Bann schlägt, ist, dass Quichotte sich in das Bild verliebt, das Bild von Selma R., wo sie schön, reich, perfekt, erfolgreich, glamourös ist, also im Grunde völlig außerhalb seiner Reichweite.
Wir lernen sie in dem Buch im echten Leben kennen als eine ganz andere Persönlichkeit. Wir stellen fest, sie wurde in der Kindheit sexuell missbraucht, sie leidet an Depressionen, an einer bipolaren Störung, und als Folge daraus wird sie zur Drogenabhängigkeit getrieben. Das heißt, ihre Realität sieht ganz anders aus als ihr Bild im Fernsehen.

Was ist Quichotte ohne seinen Sancho Panza?

Scholl: Aber dieses Bild von Salma R. begleitet nun Ihren Quichotte. Es beginnt die mittelalterliche Queste, die Suche nach der Geliebten: Auf nach New York geht es, seine Rosinante ist ein alter Chevrolet. Dann heißt es an einer Stelle: Was ist Stan ohne Olli, was ist Simon ohne Garfunkel, was ist Don Quichotte ohne Sancho Panza, der muss auch noch kommen – und, bums, sitzt er plötzlich neben ihm im Auto. Das ist, glaube ich, der Zauberstab von Salman Rushdie, der hier gut gewirkt hat, nicht wahr?
Rushdie: Ja, wie Sie schon gesagt haben, ist Quichotte ein sehr einsamer Mann. Er verbringt seine Zeit in Motels und schaut ständig fern. Er hat nie eine Frau gehabt, war nie verheiratet, hat keine Kinder.
Sein Bedürfnis nach einem Kind ist aber so stark, dass er dann tatsächlich mit einer Art Zaubertrick sich so einen Jugendlichen erschafft aus seinen Gedanken heraus. Er nennt ihn Sancho, und zwar auf dem Beifahrersitz seines Wagens. Zunächst mal ist es nur eine Einbildung, nur Quichotte selbst kann dieses Geschöpf sehen, das zunächst schwarz-weiß ist und dem er Vaterschaft zuspricht, aber dieses Geschöpf entwickelt eine so starke Sehnsucht danach, echt zu werden, dass er nach und nach tatsächlich zu einer echten Gestalt wird und aus dieser Schwarz-Weiß-Perspektive rauskommt.
Obwohl der Vater seinen Sohn Sancho nannte, meine ich, dass er viel stärker mit Pinocchio zu vergleichen ist. Ebenfalls die Geschichte eines Vaters, der aus Sehnsucht nach einem Kind eine Art hölzernes Bengele erschafft, das dann aufgrund eigener Sehnsucht nach dem Leben zum echten Kind wird, und genau das geschieht in diesem Buch auch.

Eine Zeit beständigen Umbruchs

Scholl: Zur Literatur, die Sie in Ihren Roman einspeisen, kommen wir auf jeden Fall noch. Aber Sancho steht erst mal für ein Leitmotiv auch in diesem Roman, nämlich "anything can happen", alles kann immer passieren. Das wird auch zum Leitmotiv, zum geistigen Leitmotiv für das Amerika in diesem Roman – das Land, wo Männer, die im Fernsehen Präsidenten spielen, wirklich Präsident werden, wie es an einer Stelle heißt. Ist dieses Buch, Mister Rushdie, Ihr literarischer Kommentar zum Amerika unter Donald Trump?
Rushdie: Der Name Donald Trump kommt in diesem Buch aus einem Grunde nicht vor. Die USA, Amerika, sind viel interessanter als Donald Trump. Jedenfalls wollte ich diese Zeit der Spaltungen einfangen, die Zeit, in der ein ganzes Land sich in beständiger Verwandlung befindet, ein Augenblick, den wir erleben, wo alles geschehen kann, wo das Surreale plötzlich zum Alltag wird. Ich wollte das einfangen, diese beständige Verwandlung, auch in dem Buch.
Das Buch verwandelt sich selbst, während sie über die Straßen ziehen. Dieses Buch erscheint in ganz unterschiedlichen Gattungszugehörigkeiten. Es kann mal als ein traditioneller Roman erscheinen, als Science-Fiction-Drama, als absurdes Theaterstück. Dann wiederum ist es sehr nahe dran an den Gefühlen, an der Natur, wie sie uns umgibt. Es ist naturalistisch.
Es ist also ein Abbild dieser beständigen, durch Verwirrungen durcheinandergetriebenen Realitäten, unterschiedliche Realitäten, die dann unsere echte Wirklichkeit ausmachen – also eine Zeit beständigen Umbruchs, beständiger Verwandlung. Das soll in dem Buch wiedergegeben werden.

Eine ganze Reihe an Erzähltechniken

Scholl: Es ist aber auch eine wirklich schöne und sehr humoristisch durchgeführte Idee, vor allem diesem aus dem Nichts in dieses Amerika gefallene Sancho ganz viele politische Reflexionen zu geben. Also, er denkt über die Verhältnisse um ihn herum nach. Er spricht etwa mal von "unserem Präsidenten, der wie ein Weihnachtsschinken aussieht und wie Chucky die Mörderpuppe spricht", und dann sagt er, "ich versuche wirklich zu verstehen, wie dieses Amerika jetzt ist". Versuchen Sie das auch, Salman Rushdie, mit dieser Geschichte, für sich selbst, Amerika besser zu verstehen?
Rushdie: Ja, das macht einen wichtigen Teil des Buches aus. In meinen letzten drei Romanen habe ich ja überhaupt auf je unterschiedliche Art versucht, diesen gegenwärtigen Moment einzufangen. Dabei habe ich ganz unterschiedliche Techniken verwendet.
In meinem vorletzten Buch, in "Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte", eher etwas märchenhaft Fabulierendes, in "Golden House" dann wieder etwas stärker Naturalistisches, da habe ich eine Art gesellschaftskritischen Roman damit geschrieben. Und in diesem Buch nun verwende ich fast alle möglichen literarischen Techniken. Zweck ist es dabei, mich diesem Land, dieser Welt, wie sie sich jetzt darbietet, so zu nähern, dass ich sie verstehen kann. In einem Augenblick, wo die Welt so aus den Fugen ist und so seltsam erscheint, dachte ich, muss sich der Roman dem anpassen. Er kann auch nicht mehr ein traditionell erzählender Roman sein. Er muss sich seinem Gegenstand angleichen. Er muss selbst sehr merkwürdig werden.
Ich bin also der Meinung, realistische Erzähltechniken sind hier ungenügend, um diese ins Surreale abgeglittene Welt abzubilden. Um wirklich und wahrhaftig die Welt so zu schildern, wie sie ist, muss der Roman ausgesprochen verrückt und durchgedreht erscheinen. Hier ist das also tatsächlich ein Versuch, das heutige Amerika einzufangen in dieser verrückten Verfasstheit. Zugleich auch die Geschichte eines Vaters und eines Sohnes, die ja ebenfalls versuchen, miteinander ein Verhältnis aufzubauen.

Kafkas gar nicht mehr komische Gesamtwirkung

Scholl: Viel fantastische, magische Literatur schneit in diesen Roman, Mister Rushdie. Sie haben Pinocchio schon erwähnt, Sancho wird begleitet von einer sprechenden italienischen Grille, die direkt aus Pinocchio herüberfliegt. Eugène Ionescos Rhinozeros taucht in New Jersey auf, Quichotte selbst tritt in einen fantastischen Dialog etwa mit der Statue von Hans Christian Andersen im New Yorker Central Park. "Das Surreale und das Absurde bieten die präziseste Beschreibung der Realität", sagt der Held an einer Stelle. Soweit ist es also gekommen, dass eigentlich nur noch diese Art von Literatur uns Rettung bietet?
Rushdie: Ja, mehr oder minder kann man das so sagen, wie Sie das formuliert haben. Eines möchte ich anführen: Obwohl ein Autor in dem Buch nicht erwähnt wird, schwebt er mir doch ständig vor: Das ist Kafka. Sobald man von Verwandlung spricht, muss man natürlich an diese Erzählung von Kafka denken. Dieses Buch ist tatsächlich ein Versuch, die persönliche Verwandlung ins Kosmische, ins Welthafte insgesamt zu vergrößern.
Was ich immer an Kafka bewundert habe, ist, dass er im Einzelnen stets komisch oder lächerlich erscheinen mag. Also, die Art, wie er erzählt, ist eben zum Lachen, ist komisch. Zum Beispiel ist jedes einzelne Kapitel im Roman "Das Schloss" eigentlich als Comic zu verstehen, da ist es eine Art Komödie. Die Gesamtwirkung ist dann eine ganz andere.
Ich glaubte, ich könnte etwas davon lernen. Indem ich dieses Komödiantische, das Surreale im Einzelnen beschrieb, dachte ich, kann ich dann eine ganz andere Gesamtwirkung erzielen.

Opiod-Realität in den USA heute

Scholl: Quichotte und Sancho werden aber auch mit vielen ganz konkreten amerikanischen Realitäten konfrontiert. Sie treffen auf weiße Rassisten; sie geraten in ein bar shoot-out, in eine Schießerei; und eine ganz drastisch realistische Spur ist auch die verbreitete Drogensucht durch Schmerzmittel, die sogenannten Opioide. Hier kommt Quichottes Cousin ins Spiel, der das Zeug nämlich herstellt. Selma R. ist abhängig auch von dieser Droge. Ist diese Droge auch für Sie eine Metapher für den Zustand Amerikas, wie Sie ihn sehen?
Rushdie: Ja, so kann man das sehen. Dieses Thema, das Sie da ansprechen, behandelt ja eine amerikanische Tragödie, die sich aus der Isoliertheit, aus der Vereinsamung der Menschen ergibt, aus dem Zustand einer zerbrechenden oder zerbrochenen Gesellschaft, die in die Sucht hineintreibt.
Eine Hauptgestalt des Romans, der Cousin von Quichotte, dieser Doktor Smile ist ein Unternehmer, der skrupellos Schmerzmittel verkloppt an Menschen, die das nicht brauchen, und das ist eine echte Geschichte, die sich so ähnlich tatsächlich zugetragen hat. Auch die Gestalt dieses Unternehmers gibt es in der Realität, übrigens auch indisch-amerikanischer Herkunft. Ich hatte vor Jahren schon mal Studien zu diesem Mann angestellt. Er ist übrigens mittlerweile im Gefängnis gelandet.
Diese Geschichte ist also abgeschlossen, aber das war für mich der Zugang zu einem echten Notstand in Amerika. Sie wissen, etwa 50.000 Menschen, die an einer Überdosis in Amerika jedes Jahr sterben, von diesem Schmerzmittel, das sie eigentlich nicht brauchen. Das musste dann auch in diesem Roman angesprochen werden, denn diese Todesfälle ereignen sich mehr in den großen Flächenstaaten, nicht so sehr in den Städten an der Küste.
Wenn nun Don Quichotte diese Reise durch die USA antritt, dann muss er ja auch auf dieses Thema stoßen, ebenso wie er dem Rassismus begegnen wird, der ja auch höchstreal ist. Also Sie haben recht, es ist eine Metapher, zugleich aber spricht es ein ganz reales Problem an.

"Errorismus" steht für Ignoranz

Scholl: Auch Selma R. macht in ihrer TV-Show Amerika zum Thema. In einer ihrer Shows spricht sie nicht vom Terrorismus, sondern vom Errorismus in Amerika. Das ist natürlich ein hübsches Wortspiel. Was meint Sie denn damit?
Rushdie: Unter Errorismus kann man das Übergewicht des Nichtwissens über Erkenntnis bezeichnen, also blanke Ignoranz: Zum Beispiel bei Impfgegnern, die ihre Kinder nicht impfen lassen, oder Menschen, die leugnen, dass es einen Klimawandel gibt oder die glauben, dass die Erde flach sei. Weit verbreitetes Narrentum, das wir immer stärker sehen und das natürlich bekräftigt wird durch unsere Informationstechnologien, die zugleich auch Desinformationstechnologien sind. Sie haben ja diese Ignoranz noch bestärkt.
Also ganz offen trägt mein Roman diese Absicht vor, ein satirisches Porträt des heutigen Amerikas zu liefern. Zugleich aber ist ein wichtiges Thema auch die Liebe: Liebe in ganz unterschiedlicher Gestalt, selbstverständlich auch als diese blinde Obsession, die Quichotte für Salma hegt, die romantische Liebe; aber auch andere Formen der Liebe, die Liebe von Vater und Sohn, die versuchen, hier am Beispiel von Quichotte und Sancho, eine echte Beziehung aufzubauen; aber auch die Liebe zwischen Bruder und Schwester. Quichotte hat ja eine Schwester, mit der er den Kontakt abgebrochen hat. Er versucht, diese Wunde zu heilen.
Ich meine tatsächlich, gegen diese völlig aus den Fugen geratene Welt kann man hier als erlösende Kraft Liebe einführen. Die Liebe ist tatsächlich in ihren unterschiedlichsten Formen ein Heilmittel gegen diesen heillosen Zustand.

Unverbesserlicher Optimismus

Scholl: Am Ende wird er, Quichotte, seine Dulcinea treffen, aber ganz anders, als er sich das vorstellt. Das dürfen wir natürlich keinesfalls verraten, Salman Rushdie. Die ganze Geschichte wiederum, die wird erzählt von einem Schriftsteller, den Sie sich ausgedacht haben und der auch eine wichtige Romanfigur ist in diesem Buch. Er ist ein Autor, der eher so drittklassige, wenig erfolgreiche Spionageromane schreibt, und irgendwann erkennt er, dass Quichotte und er selbst immer mehr verschmelzen, dass sie keine getrennten Wesen mehr sind, sondern eins. Ging es Ihnen denn beim Schreiben auch so?
Rushdie: Ja, so kann man das sehen. Dieser zweite Erzählstrang in dem Buch, also die Geschichte des Autors, der dieses Buch schreibt, ist ja auch tatsächlich wichtig und hat auch mit mir, also mit dem Autor hinter diesem erfundenen Autor, zu tun. Ich zeige hier auch, wie sich eine Gestalt, eben dieser Autor, beständig verwandelt und wie der Autor des Buches sich auch verwandelt in den realen Autor, also mich selbst – dass er, dieser Autor, es ist, der selbst diese Geschichte mit der Schwester zu heilen versucht, dass er auch dieses Ding am Laufen hat mit Salma. Also, hinter diesem imaginären Autor steckt tatsächlich der reale Autor.
Was man bei Quichotte wirklich hervorheben muss, ist sein unverbesserlicher Optimismus, seine Zuversicht, mit der er auf die Welt zugeht, die eigentlich nicht besonders liebenswürdig erscheint. Auch sein Vorschuss an Vertrauen, den er allen Menschen entgegenbringt, als würden sie sich jeweils ihm gegenüber sehr anständig zeigen, auch wenn es sich dann um Rassisten handelt. Diese grundsätzlich zuversichtliche Haltung ist auch meine. Auch ich bin überhaupt nicht zur Verzweiflung geneigt.
Meine Freunde schelten mich oft wegen meines unnachgiebigen Optimismus und sagen, das kann man doch so nicht sehen, aber ich selber sehe mich auch so wie Quichotte sich sieht. Ich wollte diesen Wesenszug auch der Gestalt des Quichotte verleihen: eine Welt, die eben selbst nicht besonders gnädig ist, mit unerbittlichem Optimismus anzugehen.

Freunde hineingeschrieben

Scholl: Wie immer in Ihren Romanen, Salman Rushdie, mischen Sie high and low, die populäre Kultur mit der klassischen; Filmmusik kommt auch vor, "I like to watch things on TV" by Lou Reed zum Beispiel. Und Sancho verrät an einer Stelle seine Liebe zur Musik von U2. Das ist eine kleine Hommage von Ihnen selbst, nicht wahr? Sie sind befreundet mit Bono, dem U2-Sänger. Er hat Sie damals in den Jahren der Bedrohung unterstützt, sogar bei Konzerten auf der Bühne geholt. Sind Sie noch im Kontakt?
Rushdie: Ja, wir sind immer noch gut befreundet. Sie haben ja auch eine Zeile von Lou Reed genannt. Auch mit ihm bin ich gut befreundet. Was kann man denn für Freunde tun, wenn man sie nicht in das eigene Buch hineinschreibt, das kann man doch mindestens tun.
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