Marc Sagnol: „Galizien und Lodomerien. Eine Spurensuche“

Zauberreich und Todesacker

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Cover des Buchs "Galizien und Lodomerien": Es zeigt ein bräunlich-blasses Foto einer Straßenszene. Der Titel des Buches steht darauf in rotbraunen Buchstaben.
© Kulturverlag Kadmos

Marc Sagnol

Übersetzt von Andreas Fliedner

Galizien und Lodomerien. Eine SpurensucheKulturverlag Kadmos, Berlin 2021

238 Seiten

24,90 Euro

Von Carsten Hueck · 06.01.2022
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Von der früheren Blüte Galiziens ist in Mittelosteuropa heute kaum noch etwas zu spüren. Der Autor und Fotograf Marc Sagnol hat sich in der Region auf Spurensuche begeben. Seine Fotos zeugen von Tristesse und der Auslöschung jüdischen Lebens.
Es klingt wie aus einem Märchenbuch: „Galizien und Londomerien“, so lautet die offizielle Bezeichnung für die ehemaligen Kronländer im Osten der Habsburgermonarchie. Nach der polnischen Teilung Ende des 18. Jahrhunderts gehörte die Gegend zum k.u.k. Österreich. Die Verwerfungen europäischer Geschichte im 20. Jahrhundert führten zu abwechselnden Zugehörigkeiten: Polen, die Sowjetunion und Rumänien beanspruchten die Gebiete zwischen Weichsel und Pruth. Heute liegt der größte Teil des ehemaligen Galiziens auf dem Territorium der Ukraine.
Der französische Autor, Fotograf und Filmemacher Marc Sagnol bereist seit über dreißig Jahren die Gegend zwischen Krakau und Czernowitz. Anfangs noch mit Schwierigkeiten: Lemberg, Heimatstadt des Vaters seiner damaligen Freundin, lag auf sowjetischem Territorium und war für ihn nicht erreichbar.
1992 sah er die Stadt erstmals auf der Durchfahrt – aus dem Fenster eines Zuges, den er nicht verlassen durfte. Trotz der Soldaten in sowjetischer Uniform, die er auf dem Bahnhof wahrnahm, konstatierte er: „Ich hatte das Empfinden, eine Hochburg der polnischen, wienerischen und jüdischen Kultur zu passieren.“

Persönliche und literarische Suchbewegung

Das Motiv, Nachforschungen in und über Galizien anzustellen, war die Biografie seines „Schwiegervaters“, dessen Familie im Holocaust umgekommen war, der selbst aber als Soldat der Roten Armee überlebt hatte. „Ich wollte… versuchen zu begreifen, wie eine so reiche Kultur ausgelöscht werden konnte, einige ihrer Spuren zu fassen bekommen, festhalten, herauspräparieren.“
Begleiter bei Sagnols Spurensuche sind die vielen Autoren, die vor ihm über Galizien geschrieben haben und oft von dort stammen. Im Buch kontrastiert er ihre Ortsbeschreibungen mit seinen eigenen Beobachtungen. Gegenwart und Vergangenheit werden so miteinander verschränkt und lesend kann man ermessen, welch ethnische, kulturelle und sprachliche Vielfalt im einstigen Galizien geherrscht haben mag.
Leopold von Sacher-Masoch, 1836 in Lemberg geboren, ist einer der ersten, der Galizien, das damals keineswegs einen guten Ruf hatte, in die deutschsprachige Literatur einführte. Es folgten Karl Emil Franzos aus dem Schtetl Czortkow, Joseph Roth aus Brody, Soma Morgenstern aus Budzanów, Bruno Schulz aus Drohobytsch und viele andere mehr. Sagnol reist an all diese Orte.
Auch nach Grodek, wo der österreichische Lyriker Georg Trakl im Ersten Weltkrieg traumatisiert wurde, nach Horodenka, das der Schauspieler Alexander Granach in seiner Autobiografie beschreibt oder nach Butschatsch, in die Geburtststadt des Literaturnobelpreisträges Samuel Josef Agnon. Unter dem Namen Schibusch hat er sie in seinem Roman „Eine ganz einfache Geschichte“ verewigt.

Begegnung mit der Gegenwart

Sagnol beschreibt seine Eindrücke sachlich und unsentimental. In vielen der von ihm bereisten Orte hat er Schwarz-Weiß-Fotos gemacht. Sie vermitteln vor allem den Eindruck von Tristesse. Leere Straßen, ab und zu ein Auto oder ein Passant von hinten sind darauf zu sehen. Doch auch überwucherte jüdische Friedhöfe und überraschend viele ehemalige Synagogen. Teilweise verfallen, teilweise einer neuen Bestimmung zugeführt, als Boxklub oder Tanzbar. Um ihren Erhalt, das wird sichtbar, ist kaum jemand bemüht gewesen.
Daran ist ermessbar, dass in Galizien das jüdische Leben in jeder Hinsicht ausgelöscht wurde. Und dass die jüdische Geschichte des ehemaligen Kronlandes schwer in das nationale Narrativ der heutigen Ukraine integrierbar ist. 20 Kilometer von Brody entfernt steht weithin sichtbar ein Ehrenmal für die ukrainische SS-Division „Galizien“.

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