Dresden

Jetzt hilft nur noch ein Weihnachtsmärchen!

04:35 Minuten
Geschlossene Buden des Historischen Weihnachtsmarktes stehen vor der Frauenkirche auf dem Neumarkt.
In Dresden ist Weihnachten eine Art Besinnlichkeitskarneval, um den Rest des Jahres besser zu überstehen. © picture alliance/dpa-Zentralbild / Sebastian Kahnert
Eine Betrachtung von Lutz Rathenow · 06.12.2021
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Aus Sachsen hört man meist nur Hiobsbotschaften, was Impfproteste und Infektionszahlen angeht. Dabei ist die Landeshauptstadt Dresden immer eine aufgeklärte Metropole gewesen. Lutz Rathenow lotet sächsische Befindlichkeiten aus.
Wer ostdeutsche Identität für eine sozial und mental leicht zu erklärende Sache hält, kennt Dresden nicht. Als einmal ein führender sächsischer Politiker seinen Parteifreunden aus Berlin eine mit viel historischem Wissen gespickte Rede vor dem Arbeitsessen darbot, mühten die sich um freundliche Fassung. Sie hatten die nett gemeinten ironischen Anspielungen auf Bezüge zur preußisch-säch­sischen Kriegsgeschichte nicht verstanden.
Ich auch nicht.

Chipfabrik und Wölfe - im gleichen Universum

Fährt einer dieser Tage durch Dresden, spricht mit Bekannten - vorwiegend am Telefon, um Kontakte zu minimieren - durchblättert die Zeitungen, fallen Dinge auf, die nicht zusammenpassen. Dresden als hochmoderne Stadt, sie bastelt ernsthaft am Chipherstellungsstandort für Europa, und die Berichte darüber stehen nicht nur in der Lokalpresse. Gleichzeitig bereiten sich in den Vororten Menschen auf die Ankunft der Wölfe vor.
Einige wollen sie unbedingt fotografieren, andere denken über praktische Abwehr nach, und es geht mir wie bei einer Zeitung aus der Innerschweiz: Ich verstehe jedes Wort, aber kann den Sinn nicht wirklich erfassen und schon gar nicht beurteilen. Da wird über ein unbekanntes neues Rudel in einem Wald diskutiert, das von einem Wolf abstammen könnte, der viele Schafe gerissen hat, und wie schwer es sei, getötete Schafe einzelnen Wölfen zuzuordnen. Wie soll man ihre Gefährlichkeit einschätzen?

Unter dem Schock abgesagter Weihnachtsmärkte

Zeitgleich arbeiten viele sehr aufgeschlossene Menschen allerlei Geschlechts im Kulturbetrieb an neuen Projekten und der Sicherung ihrer Arbeitsfähigkeit über Corona hinaus. Diese Woche beginnt die Sichtung der in großer Zahl aus aller Welt eingereichten Beiträge für das Filmfest Dresden im nächsten Jahr. Dresden als Bühne braucht seine Besucher und steht aktuell noch unter dem Schock der abgesagten Weihnachtsmärkte.
Das greift tief ins Seelenleben vieler Menschen ein, und als Wirtschaftsfaktor ist die sehr kurzfristige Absage für die Planer vom Striezelmarkt und anderen Weihnachtsevents existenzbedrohend.

Stollenanstich tut der Seele gut

Stollenanstich, Stollenkönigin, Anschieben der Weihnachtspyramide - der Aktivitätenkosmos ist unendlich und beginnt früh im Herbst. Eine Art Besinnlichkeitskarneval, um den weihnachtslosen Rest des Jahres besser zu überstehen. Die „Weihnachtshauptstadt grüßt die Landeshauptstadt“ eröffnete in Vorcoronazeiten eine Oberbürgermeisterin Dresdens ein Weihnachtskonzert in Berlin und sah sich da auf Augenhöhe. Mindestens.
Dresden als Erwartungshauptstadt und Wunscherzeugungsmaschine hat auch bittere Bestandteile. Dieser Tage schwillt im Freistaat die demokratieverachtende Wuterzeugung gegen die sinnvollen und eher zu zögerlichen Maßnahmen gegen Coronaverbreitung wieder an. An viel zu vielen Orten.

Proteste haben sich verlagert

Interessanterweise haben sich die auf der Straße sichtbaren Proteste von vorwiegend rechts bis wutradikal aus Dresden zurückgezogen und mixten zum Beispiel im erzgebirgischen Freital bei knapp tausend Leuten das „Steigerlied“ mit antisemitisch grundierten Sprüchen und dem inhaltlich seit Monaten immer wieder gegrölten Ruf: „Frieden, Freiheit, keine Diktatur!“
In Dresden kurvte indes ein Autokorso von knapp hundert Wagen durch die Innenstadt. Als er wegen Demonstranten stockte, entstieg dem Wagen einer der Pegida-Organisatoren. Man bleibt anders als in Bautzen oder Pirna lieber im Trockenen und organisiert die Dinge aus der Ferne?

Zu Nikolaus Impftermine im Schuh

Eigentlich wollen viele Dresdner einfach besonders freundlich sein.
Am schönsten wäre es da, der Nikolaus heute legt jeder und jeden, die nicht dran waren, einen Impftermine in die Schuhe. Und der Impfstoff reicht für alle. Und die Stadt schenkt aus Fördermitteln jeden Neu-, Zweit- und Drittgeimpften einen kleinen Stollen. Auf einmal lassen sich alle impfen, die Stadt an der Elbe wird zur ersten mit eine Impfquote von 96,8 Prozent.
Ein Dresdner Filmteam sichert sich vor Hollywood die Rechte an diesem Weihnachtsmärchen. Das natürlich ein großer Erfolg wird. Weltweit, und beim Blick auf die Karte sehen alle, das ja Dresden gar nicht im Osten, sondern eher in der Mitte Europas liegt.

Lutz Rathenow, 1952 in Jena geboren, lebt in Berlin und Dresden. Von 2011 bis 2021 war er Sächsischer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Lyriker, Coach, Prosaist. Ein Longseller ist der Bild-Text-Band „Ostberlin“ (mit Fotos von Harald Hauswald). 2021 erschien „Maskierungszärtlichkeit. Dresdner Gedichte“.

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