Sachsen-Anhalt: Neue Konzepte in der Gemeindearbeit

Kirche auf Zeit

Marktplatz von Hettstedt
Hettstedt - hier geht die evangelische Kirche neue Wege. © picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt
Von Dorothea Heintze · 05.12.2017
Im Mansfelder Feld geht seit Jahrzehnten die Anzahl der Kirchenmitglieder zurück. Eine neue Idee soll diesen Trend stoppen: Eine Grundschule wird zur Kirchengemeinde - ohne Kirche, aber mit vielen engagierten Mitstreitern.
Lehrerin: "Wir hatten im letzten Jahr für jede Klasse ein besonderes Lutherlied und unsere Klasse hat auch ein ganz tolles."
Musikunterricht in der dritten Klasse der "evangelischen Grundschule Martin Luther" in Hettstedt. Das Reformationsjahr ist zu Ende, doch das dafür extra einstudierte Lied singen die Kinder immer noch mit Begeisterung – sein Titel?
"Habe Mut!"
Luisa ist neun Jahre alt und erst vor zwei Jahren mit ihren Eltern nach Hettstedt gezogen. An ihrer neuen Schule fühlt sie sich wohl:
"Also, ich finde schön, dass man hier gut lernen kommen kann und wenn man mal traurig ist, dass man von den Lehrern getröstet wird."
Obwohl aus einem nichtchristlichen Haushalt, wollte sie letztes Jahr getauft werden:
"Ja, also ich bin in der Schule getauft, das war sehr aufregend für mich, und ich bin sehr glücklich dass ich jetzt eine Patentante habe."
Christliche Lieder singen, den Morgen mit einer Andacht beginnen und ja, selbst eine Taufe für Kinder, Eltern oder auch Lehrer – all dies ist typisch für Schulen in christlicher Trägerschaft. Die Martin Luther Grundschule in Hettstedt jedoch ist mehr – sie nennt sich "Schulgemeinde auf Zeit".

87 Kinder aus 21 Dörfern

"Erprobungsräume" heißt das Projekt der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Gesucht werden neue Formen für Kirche, für Glauben, für ein christliches Miteinander. In Hettstedt wurde die Schule zur Gemeinde. Schulpfarrerin Dörte Paul erläutert:
"Das Besondere dieser Schulgemeinde ist nicht der Religionsunterricht, den es natürlich an einer evangelischen Schule, für alle Kinder gibt. Sondern die Möglichkeit, sich selbst, spirituell und religiös, evangelisch christlich wahrzunehmen und in dieser Beziehung auch zu wachsen."
Aus 21 Dörfern stammen die 87 Kinder der einzügigen Grundschule. Die meisten dieser Kinder kennen Kirche und christliches Leben nicht mal mehr aus den Erzählungen ihrer Eltern oder Großeltern. Mit der Gemeinde auf Zeit übernimmt die Schule, so sieht es Dörte Paul, damit auch einen missionarischen Auftrag:
"Ich denke, Bindungen schafft man vor allem dann, wenn Menschen vor Ort sind, die es mit anderen Menschen gut meinen. So wie Christentum auch angefangen hat. Und das heißt dann eben nicht nur eine Bindung an eine Institution, sondern auch ausreichend Menschen vor Ort, die davon erzählen, davon sprechen und davon leben, dass Gott in ihrem Leben wirkt."
Damara Howitz hat vier Kinder, zwei davon waren bereits an der Grundschule, im Sommer folgt Nummer drei. Mission an einer Schule? Nein, das befremdet sie nicht. Hettstedt, so sagt sie, sei ja nun eine evangelische Schule. Wer seine Kinder hierher schicke wisse das – das gelte für christliche Eltern genauso wie für die nichtchristliche:
"Ich finde das gut, Schulgemeinde auf Zeit, dass andere Eltern mit dem christlichen Glauben in Verbindung kommen, die sonst überhaupt keine Verbindung haben, weder zur Kirche, einfach jetzt über die Kinder."
Die Idee, dass ihre Schule zur Gemeinde wird, hatte Schulleiterin Kerstin Müller schon vor Jahren. Mit den zusätzlichen Finanzmitteln, die es jetzt über das Sonderprojekt von der Landeskirche und dem Kirchenkreis gibt, kann sie das Angebot weiter ausbauen und fest installieren:
"Wir haben alle Dinge, die wir sowieso schon gemacht haben, die haben wir fortgeführt, vielleicht der Qualität verbessert. Oder wir haben ein neues Projekt angefangen ‚Vater-Kind-Zeit‘ - und in Zusammenarbeit mit dem Kinder und Jugendpfarramt in Magdeburg solch ein Wochenende organisiert haben. Was sehr, sehr großen Anklang gefunden hat."

Die Region gilt als sozialer Brennpunkt

Zurück in die dritte Klasse, Weihnachten steht vor der Tür, die Kinder haben Geschenke gepackt für ein Hilfsprojekt – was ist drin?
"Kuscheltiere, Stifte, Kuscheltiere …"
21 Kinder hat die Klasse, gleich drei von ihnen haben einen Extra-Förderbedarf. Die Region um Hettstedt gilt als sozialer Brennpunkt mit hoher Arbeitslosigkeit. Staatlich anerkannte Schulen in freier Trägerschaft wie Hettstedt werden nur zum Teil durch Steuergelder finanziert und müssen daher ein Schulgeld erheben. In Hettstedt sind es 80 Euro im Monat. Viele Familien können das nicht bezahlen und sind vom Schulgeld befreit – dann übernimmt die Evangelische Schulstiftung in Erfurt die Kosten. Neben Hettstedt gehören weitere 21 Schulen in Sachsen und Thüringen zu ihr - Marco Eberl ist Vorstandsvorsitzender:
"Wir haben uns entschieden, in dieser Region, im ländlichen Raum, beinah im entkirchlichtem Raum und unter ganz schwierigen Bedingungen, Schule zu machen. Und insofern verstehen wir unser Engagement als Investitionen in Kinder, in Zukunft, und sehen unsere Aufgabe darin, dieses Projekt zu unterstützen und begrüßen, dass die Landeskirche sich gemeinsam mit uns auf den Weg gemacht hat, neue Wege in Hettstedt zu gehen."
Was passiert mit Kirche, wenn die Menschen wegbleiben? Hettstedt liegt im Mansfelder Feld. Wo einst die Reformation begann, gehört heute nur noch jeder zehnte Bewohner einer christlichen Kirche an. Genau deshalb ist eine Schulgemeinde wie Hettstedt hier genau richtig platziert, sagt Marco Eberl:
"Insofern ist das eigentlich ein Laborversuch unter optimalen Bedingungen, wenn ich das so sagen darf: Ich glaube, da werden viele aus den westdeutschen Landeskirchen sehr aufmerksam schauen: Kann man in einer solchen Region, die nicht nur entkirchlicht ist, die auch noch in sozial schwierigen Verfassung ist, kann man in so einer Region ein Hoffnungszeichen setzen?"

Ein Leuchtturm auf Zeit?

Ein Leuchtturm, aber kein flächendeckendes Modellprojekt soll Hettstedt sein. Das Einzugsgebiet der Schule ist sehr groß, Pfarrer, die hier arbeiten sind für bis zu 28 Dörfer zuständig. Unter solchen Bedingungen ist eine Schulgemeinde für sie keine Konkurrenz sondern ein Ort der Begegnung, weiß Dörte Paul.
"Das bietet für die Pfarrer auch die Möglichkeit, die Vernetzung in ihren eigenen Dörfern klarzuhaben, und auch zu wissen, ach das Kind aus dem kleinen Dorf XY, geht auch an die evangelische Grundschule. Da könnte es ja sein, dass die Kinder und auch die Eltern gar nicht so ablehnend der Kirche gegenüberstehen."
Was wird sein, wenn die Phase als offiziell anerkannter und finanziell unterstützter Erprobungsraum beendet ist? Schulleiterin Kerstin Müller und Pfarrerin Dörte Paul wollen sich von diesem Szenario nicht den Schwung nehmen lassen – die "Schulgemeinde auf Zeit" soll dauerhaft eine Schulgemeinde bleiben. Vielleicht müsse man das eine oder andere Angebot eindampfen, meint Kerstin Müller. An der Grundidee jedoch wollen sie festhalten. sagt Pfarrerin Dörte Paul – sichtbares Zeichen könnte der Altar im Andachtsraum sein:
"Wir hätten gerne für den Andachtsraum einen mitwachsenden Altar – so in der Vorstellung, dass bei Gott alle Namen aufgeschrieben sind, hier in dem Altar alle Personen sich wiederfinden, und da sind wir am Überlegen, wie das aussehen könnte, dass ein solcher Altar über Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte, mitwächst und bleibt – und diese Schulgemeinde über die Jahre begleitet und das Leben in der Schulgemeinde auch aufzeigt."
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