Sachbuch

Zwei mächtige Felsen der Wissenschaft

Besprochen von Susanne Billig · 23.11.2013
Zwei grundlegende Theorien zur Definition von Zeit behandelt Thomas de Padova mit großem erzählerischen Talent. Isaac Newton sprach von einer absoluten, wahren Zeit. Gottfried Wilhelm Leibniz dagegen hielt sie für ein rein subjektives Phänomen.
In seinem Buch "Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit" spannt Thomas de Padova einen prächtigen Bilderbogen auf. Der Autor folgt den Lebenswegen der beiden Universalgelehrten, die aus der Geschichte ragen wie zwei mächtige Felsen. Er lässt das goldene Gepränge des Barockzeitalters aufmarschieren, die tausend Zimmer von Versailles und die strengen französischen Gärten, deren Design sich lesen lässt als Kommentar zu den Finessen der Infinitesimalrechnung mit ihren sich ins Unendliche verjüngenden Intervallen, über deren Erfindung Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz in einen bitteren Streit gerieten.
Vor einem reichen historischen und philosophischen Hintergrund entfaltet der Autor das wichtigste Thema seines Buches: die Frage nach der Zeit. Mit dem ersten Ticken von Minuten- und Sekundenzeigern verblasste das Wissen darum, dass auch die präziseste Uhr lediglich auf eine natürliche rhythmische Veränderung zurückgreift - aber ob sie eine absolute, wahre Zeit misst, "die Zeit" schlechthin, das ist die Frage.
Wie ein Kuchen, von dem man mehr oder weniger abbekommt
Isaac Newton bejahte dies und machte es der Physik möglich, sämtliche Bewegungen von Körpern auf diese absolute Zeit zu beziehen. Was immer es in der Welt gibt und was immer geschieht, findet in einem festen Raum-Zeit-Gefüge statt. Diese Auffassung durchdringt bis heute unser gesamtes Zeiterleben. Wir richten uns nach der Zeit, teilen sie ein und sparen daran, als wäre die Zeit so etwas wie ein Kuchen, von dem man mehr oder weniger abbekommen kann.
Im Universum von Gottfried Wilhelm Leibniz hingegen stellt die Zeit ein rein subjektives Phänomen dar. Es ist unser Geist, der fortwährend Beziehungen zwischen Ereignissen herstellt und sie zu räumlichen und zeitlichen Einheiten zusammenfasst. Darum lassen sich auch so viele Raum- und Zeitperspektiven denken, wie es Menschen gibt. In dieser Welt messen Uhren keine real existierende Zeit, sondern ihnen kommt eine soziale Funktion zu, indem sie die vielen Zeiten der vielen Menschen einem Takt unterwerfen.
Beide Theorien bilden das Fundament der modernen Physik
Bis in die moderne Physik hinein ziehen sich die zwei Zeitvorstellungen, erklärt Thomas de Padova am Ende seines Buches, das mit seinem erzählerischen Talent in die erste Reihe des guten populärwissenschaftlichen Sachbuchs gehört: Während die Quantenphysik Newtons absolute Zeit voraussetzt, stützt sich die Relativitätstheorie auf die relationalen Vorstellungen von Leibniz. Beide Theorien bilden das Fundament der modernen Physik - und passen einfach nicht zusammen.
Die subjektive Ereigniszeit haben wir heute weit aus unserem Alltag vertrieben, sagt Thomas de Padova nicht ohne Bedauern. Dennoch begegnen wir ihr bisweilen. Etwa wenn wir am Telefon den Satz sagen: "Ich rufe dich zurück, wenn die Kinder im Bett sind." Kinder werden müde, wenn sie müde werden. Eine Blume blüht, wenn sie blüht. Wir verlieben uns, wenn wir uns verlieben. Der Tod kommt, wenn er kommt. Letztlich ist auch der Zerfall des Cäsium-Isotops, mit dem modernste Atomuhren operieren, nichts anders als ein Ereignis im ewigen Jetzt.

Thomas de Padova: Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit
Piper Verlag, München 2013
352 Seiten, 22,99 Euro

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