Sachbuch

Wunderwelt der Wahrnehmung

Das Ohr eines zwei Wochen alten Babys
Das Ohr eines zwei Wochen alten Babys © picture alliance / Uli Deck
Von Susanne Billig · 18.04.2014
Dass wir beim Gehen nicht dauernd auf die Nase fallen, verdanken wir Sinneszellen, die in den Muskeln präzise Messungen vornehmen. Solche und ähnliche erstaunliche Leistungen unserer Wahrnehmungsorgane erklärt das Buch "Biologie der Sinne".
Die Könige unter den Sinnesorganen sitzen an den Wurzeln der feinen Härchen im Innenohr. Diese Sinneszellen nehmen winzigste Vibrationen wahr und reagieren bereits, wenn sie um nur 0,3 Nanometer verbogen werden - das entspricht dem Durchmesser eines einzigen Wasserstoffmoleküls.
Eintauchen in die Wunderwelt der Wahrnehmungen – das kann man mit dem neuen Sachbuch "Biologie der Sinne" von Stephan Frings und Frank Müller. Schon ein Blick in das Inhaltsverzeichnis verrät das vielseitige Interesse der Autoren: Die Evolution von Sehen, Hören und Riechen, die blitzschnelle Sprache der Nervenzellen, die erstaunlichen Navigationskünste von Vögeln und Fledermäusen oder die Frage, wie tierische Gehirne aus den Abermillionen sekündlich einprasselnder Sinneswahrnehmungen ein sinnvolles Weltbild erzeugen – alles das erläutern die Autoren detailverliebt und unterhaltsam.
Nur die spannendsten und erstaunlichsten Informationen
Wie ein klassisches Lehrbuch ist dieses Sachbuch aufgemacht, sorgfältig gegliedert, zweispaltig gesetzt und ausgestattet mit einer Fülle an Informationsgrafiken. Da macht ein Querschnitt durch die Riechschleimhaut der Nase den engen Kontakt von Sinneszellen und Gehirn begreifbar. Im Kapitel über die Licht-Wahrnehmung führen optische Täuschungen den Betrachter in die Irre. Eine Landkarte zeigt Magnetfelder unterschiedlicher Intensität – unverzichtbare Informationsquelle für den Orientierungssinn der Vögel. Sprachlich setzt das Buch dennoch ganz auf die Populärwissenschaft und präsentiert mit sicherem Gespür nur die spannendsten und erstaunlichsten Informationen.
So erzählen die beiden Autoren ausführlich von der Fähigkeit hochempfindlicher Sinneszellen in den Muskeln, präzise Dehnungsmessungen durchzuführen. Solche Messungen sind unverzichtbar für den aufrechten Gang es Menschen: Wird ein Muskel im Körper überdehnt, informieren die Nervenfasern umgehend das Rückenmark. Ganz ohne Mitwirkung des Gehirns sendet das Rückenmark einen Steuerbefehl zurück an den Muskel, der zieht sich in Sekundenbruchteilen wieder zusammen und richtet den Körper auf. Dieser rasante "Muskelspindel-Reflex" bewahrt den menschlichen Zweibeiner fortwährend vor gefährlichen Stürzen.
Erfrischend grundsolide
Vergleicht man dieses Buch mit vielen anderen über die Leistungen von Nervensystem und Gehirn, fällt eines auf: In den vergangenen zwanzig Jahren wurde es Mode, die Biologie und namentlich die Hirnforschung mit fachfremden Fragen zu überschütten: Gibt es einen freien Willen? Warum verlieben sich Menschen ineinander? Was bewegt den Homo sapiens zur Musik und zur Kunst? Ethische und kulturwissenschaftliche Thematiken, zu denen die Biologie nur schrecklich dürftige Kommentare abgeben kann, die dennoch so ausufernd erörtert werden, dass die Populärwissenschaft das reiche Wissen der echten, biologischen Wahrnehmungsforschung kaum noch weiter erzählt. Die "Biologie der Sinne" geht einen erfrischend grundsoliden anderen Weg: Stephan Frings und Frank Müller teilen einen riesigen Erkenntnisschatz über die Sinnesleistungen von Mensch und Tier – ohne die Kulturwissenschaften auch nur zu streifen.

Stephan Frings, Frank Müller: Biologie der Sinne. Vom Molekül zur Wahrnehmung

Springer Verlag, Berlin-Heidelberg 2014

348 Seiten, 24,99 Euro

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