Wie schmeckt die Welt?

26.06.2008
Geschichten über Lust und Pein unserer Sinneswahrnehmungen versammelt der Band "Die fünf Sinne". Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler schreiben über den Genuss beim Hören von Musik, aber auch die Qual wiederholter störender Geräusche. Von dem glücklichen Blick in die Natur, aber auch "ätzender Schärfe, die in den Pupillen sticht".
Eine Klimaanlage, die ununterbrochen im Hinterhof summt, kann uns wahnsinnig machen, der Gesang der Vögel in den Baumwipfeln glücklich - wir hören den Sommer. Wir sehen Wolken am Himmel, riechen Gänseblümchen, schmecken Kirschen und fühlen den warmen Wind auf der Haut: Mit unseren fünf Sinnen erleben wir die Welt. Ohne sie wäre nichts.

In 21 kurzen Essays, Abhandlungen und Gedichten versuchen Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler dem Geheimnis unserer Sinneswahrnehmung auf die Spur zu kommen und gratulieren damit dem Übersetzer und Anglisten Klaus Reichert zu seinem 70. Geburtstag.

Die Beiträge in diesem Buch sind wie unsere Sinneswahrnehmungen: bunt, durcheinandergewürfelt, mal kürzer und mal länger, mal sanfter und mal intensiver. Auf nur knapp drei Seiten schreibt zum Beispiel der Pianist Alfred Brendel über das Hören. Wie hört einer, dessen Leben aus Musik, aus Klang besteht? Ein Musiker, dessen Hörsinn so geschärft und trainiert ist, dass er mit dem gemeinen Hören des Laiens vielleicht gar nichts mehr zu tun hat?

Etwas greifbar Körperliches habe Musik für ihn, berichtet Brendel, egal ob er selbst spielt oder zuhört. Musik sei dreidimensional: "Musik ist von Raum umschlossen, die den Klang zum Blühen bringt oder ihn erstickt." Brendel schreibt von der Lust und Pein des Hörens, davon, wie eine Wahrnehmung quälen kann: das Stöhnen eines Aufzugs - oder in Glückseligkeit versetzen, wie die Energie und Zartheit einer schönen Aufführung.

Ganz verschiedene Autoren nähern sich dem Thema unserer Sinneswahrnehmungen auf unterschiedlichste Weisen. Die Schriftstellerin Felicitas Hoppe schreibt über das Sehen-Müssen, der Geschäftsführer des Hanser-Verlags, Michael Krüger, über den Duft von Büchern, der Schriftsteller Martin Mosebach steuert ein Gedicht bei über das kurzsichtige Kind, das seine Umwelt vor und nach der ersten Brille empfindet - wo einst wohliges Schwimmen und Wolken-Körpern waren, ist plötzlich "ätzende Schärfe, die in den Pupillen sticht".

Wissenschaftlich sachlich hingegen beschreibt der Hirnforscher Wolf Singer unseren siebten Sinn, wie wir Entscheidungen aufgrund nichtbewusster Wahrnehmungen treffen: Wir riechen, schmecken, hören, sehen, fühlen vieles in unserer Welt, ohne dass wir es wissen. Aber aufgrund dieser unbewussten Wahrnehmungen handeln wir und treffen so auch noch meist die richtige Entscheidung.

Locker miteinander verbundene kleine Gedankenanstöße sind das, kaum ein Beitrag ist länger als fünf oder sechs Seiten. Zusammengehalten werden sie allein dadurch, dass sie für Klaus Reichert geschrieben wurden. Ein Geburtstagsgeschenk von Freunden für den Shakespeare-Übersetzer, Lyriker, Anglistik-Professor und derzeitigen Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt.

Am besten liest man Urs Widmers vergnügliches und augenzwinkerndes Porträt seines langjährigen Freundes, "Wie Klaus Reichert schmeckt", gleich zu Anfang. Denn da beschreibt Widmer seinen Freund als einen dieser Menschen, die gar nicht anders können, als die Welt mit allen Sinnen ständig und intensiv aufzunehmen.

Deshalb konnte diese Festschrift, die sich als kleines Sommerbüchlein tarnt, gar nichts anderes werden als ein Buch über die Sinne. Ohne ausschweifende Erörterungen, stattdessen mit kurzen Gedankenflügen, Ideen und Beobachtungen.

Rezensiert von Sibylle Salewski

Anne Hamilton und Peter Sillem (Hrsg.), Die fünf Sinne: Von unserer Wahrnehmung der Welt
Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 2008
176 Seiten, 9,95 Euro