Sachbuch

Wunder der Evolution

Ein Axolotl oder Schwanzlurch im Forschungszentrum für Regenerative Therapien in Dresden
So sieht er aus: Ein Axolotl © picture alliance / dpa / Foto: Matthias Hiekel
Von Tabea Grzeszyk  · 25.11.2014
Der Axolotl ist ein stark gefährdeter Schwanzlurch und der Fangschreckenkrebs hat die Größe einer Gewürzgurke: Dank "Wahre Monster" des Briten Caspar Henderson lernt man auf vergnügliche Weise Tiere kennen, von denen viele nicht einmal wussten, dass es sie gibt.
"Er besitzt die schnellsten Genitalien des Westens und zertrümmert Dir damit mit voller Wucht den Schädel. Die Schockwelle, die auf den Erstschlag folgt, reißt Deine Eingeweide in Fetzen. Zum großen Glück für die Menschheit hat Gonodactylus smithii – ein Stomatopode oder Fangschreckenkrebs – die Größe einer Gewürzgurke, und zu seinen Opfern gehören hauptsächlich kleine Schnecken, Krabben und Austern."
Ein Lesespaß über die Wunder der Natur
Mit diesen Worten eröffnet Caspar Henderson sein Kapitel über den "genitalfingrigen“ Fangschreckenkrebs. So unterhaltsam hat man selten über die Wunder der Natur gelesen. Der britische Schriftsteller und Journalist Henderson hat sich für sein "Bestiarium des 21. Jahrhunderts" weniger von der systematischen Terminologie der Naturwissenschaft, als vielmehr von allegorischen Tierfabeln des Mittelalters und den Kuriositätenkabinetten des 16. und 17. Jahrhunderts inspirieren lassen. Seine Auswahl an wundersamen, aber real existierenden Lebewesen – vom Axolotl (einem stark gefährdeten Schwanzlurch) bis zum Zebrabärbling (einem Strahlenflosser aus der Familie der Karpfenfische) – ist subjektiv und ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Den Autor interessiert allein das Faszinierende, Wunderliche oder Erschreckende – wie die genitalförmigen Gliedmaßen, denen der Gonodactylus smithii seinen Namen verdankt.
Als Kuriosum findet auch der Mensch Eingang in das moderne "Bestiarium", doch zeigt Caspar Henderson an unseren "höheren" Fähigkeiten wie dem Bewusstsein oder der Sprache wenig Interesse. Nein, er rückt eine unterschätzte Voraussetzung der menschlichen Evolution in den Mittelpunkt: unsere Füße. Als Jäger und Sammler hätten wir dank ihnen weite Strecken zurücklegen können – ohne große Füße kein großes Gehirn. In 27 essayistischen Kapiteln voll überraschender Gedankensprünge und interdisziplinärer Perspektivwechsel bezieht sich Henderson auf Astrophysiker und Philosophen, Zellbiologen und Mystiker, Ingenieure und Schriftsteller.
Die Phänomene der Erde erforschen
Manche Schlüsselbegriffe sind farbig markiert und werden anhand kurzer Texte am Seitenrand vertieft, ein wenig vergleichbar mit Hyperlinks auf einer Website, die auf weiterführende Informationen verweisen. Dieser Referenzreichtum aus den Gebieten der Kunst und Kultur, Wissenschaft und Technik macht aus Caspar Henderson noch keinen Leonardo da Vinci, doch sein Disziplinen aufsprengender Ansatz erinnert an jene Zeit, als Universalgelehrte die Phänomene der Erde noch ganzheitlich erforschten. So mündet auch bei Henderson ein vermeintlich trockenes Kapitel über den "Plattwurm und andere Würmer" unversehens in eine umfassende Meditation über Leben und Tod.
Man könnte Caspar Henderson vorwerfen, dass seine Essays ganz ohne anatomische Schaubilder, unter dem Mikroskop vergrößerte Fotografien oder graphische Darstellungen evolutionärer Abläufe gar kein "richtiges" Naturkundebuch sei. Man könnte auch sagen, dass manch assoziative Gedankenkette über das Ziel hinausschießt. Dabei macht genau diese radikal subjektive Handschrift dieses Buch so einzigartig und faszinierend. Kein Wunder also, dass Henderson 2013 nach Erscheinen der Originalversion gleich auf zwei britischen Shortlists, der "Royal Society Winton Prize for Science" und der "Society of Authors Biology Book Award" landete. So möge der naturwissenschaftlich gesinnte Leser parallel ein Nachschlagewerk aufschlagen – um dann das Staunen über die "wahren Monster" unseres Planeten zuzulassen. Ein bestialisches Lesevergnügen.

Caspar Henderson: Wahre Monster. Ein unglaubliches Bestiarium
Aus dem Englischen übersetzt von Daniel Fastner
Matthes & Seitz, Berlin 2014
349 Seiten, 38 Euro