Sachbuch

Wie Du mir, so ich dir

Eine nachgestellte Szene der Schlacht von Brest am 22. Juni 1941
Krieg entsteht aus "mimetischer Rivalität", sagt René Girard. © picture-alliance/dpa/ Tatyana Zenkovich
Von Carsten Hueck · 11.12.2014
Was der eine will, will der andere auch. Dieses Prinzip nennt der französische Literaturwissenschaftler René Girard "mimetische Rivalität". Aus dieser Rivalität wird fast zwangsläufig Krieg und erwächst beinahe unvermeidlich das Ende der Welt, glaubt Girard.
Sie scheint auf den ersten Blick nichts zu verbinden: den preußischen General und Militärtheoretiker Carl von Clausewitz und den 1923 geborenen französischen Literaturwissenschaftler René Girard.
In seinem neuen Buch aber setzt sich Girard mit Clausewitzs unvollendetem, 1832 posthum veröffentlichtem Werk "Vom Kriege" auseinander. Und entdeckt in dem militärischen Rationalismus des 1831 verstorbenen Strategen, der bei Jena und Auerstedt gegen Napoleon kämpfte, die Entsprechung der eigenen anthropologischen "mimetischen Theorie".
Apokalyptische Dynamik militärischer Konflikte
Seit der Antike gilt der Begriff der Mimesis - griechisch für Nachahmung - als Kategorie der Ästhetik und Kunsttheorie. Girard beschäftigt sich seit den 1960er-Jahren mit diesem Thema und hat dazu seine eigene Theorie formuliert. Sie weist weit über Ästhetisches hinaus. Girards "mimetische Theorie" behauptet eine Grundtragik des Menschen und das Nachahmungsbedürfnis als wichtigste Quelle menschlicher Konflikte.
Girard entwickelt diese Idee aus ethnologischen und anthropologischen Erkenntnissen sowie der Analyse literarischer Werke. In deren Zentrum erkennt er das Muster "mimetischer Rivalität". Auf gut Deutsch: Was der eine will, will der andere auch und wie du mir, so ich dir. Indem Girard fragt, wie aus dieser Rivalität Krieg entsteht, denkt er Clausewitz nicht nur weiter, sondern bis zum Ende – dem Ende der Menschheit.
Angesichts der militärischen Konflikte nach 1989 muss man befürchten, dass Girards apokalyptische Vision von der Eigendynamik militärischer Konflikte ohne politische Schlichtungsmöglichkeit, der gewaltsamen Wechselwirkung, der Angleichung der Gegner im Gebrauch ihrer Mittel, und deren Steigerung bis zum äußersten, tatsächlich nicht nur denkbar, sondern auch praktisch umsetzbar ist. Die jüngsten Auseinandersetzungen im Nahen Osten sowie in der Ukraine verleihen dem Buch eine unmittelbare Aktualität
Gibt es einen Ausweg aus der Gewaltspirale?
In dem fast 400 Seiten langen Dialog mit seinem Verleger untermauert der Autor überzeugend seine These von der unvermeidlichen Gewaltspirale, die zwangsläufig zur totalen Vernichtung aller Konfliktparteien führen muss. Gibt es tatsächlich keinen Ausweg? Jenseits von Optimismus und Pessimismus bietet Girard dann doch eine Hoffnung an: religiösen Glauben, d.h. Rückbesinnung auf eine christliche Ethik. De Gaulle und Adenauer, zwei Katholiken, hätten beispielsweise den Teufelskreis von Gewalt und Vergeltung zwischen Frankreich und Deutschland durchbrochen.
Doch ob die letzte Ausfahrt vor der Apokalypse tatsächlich für alle geöffnet ist, scheint der Autor in seinem Epilog selbst zu bezweifeln. Girard will aufklären über Mechanismen, die sich der Vernunft entziehen. Das bleibt das Paradox seines über weite Strecken gut lesbaren, um Verständnis bemühten, für Verständigung plädierenden Buches.
Doch lässt man sich konsequent auf seine Sichtweise ein, bleibt Hoffnung nur dem Christenmenschen: Die Apokalypse wird kommen, aber gottseidank ist sie ja nicht das Ende.

René Girard: Im Angesicht der Apokalypse. Clausewitz zu Ende denken.
Gespräche mit Benoit Chantre

Aus dem Französischen von Stefanie Günthner
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2014
388 Seiten, 39,90 Euro
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