Kleiner Stimmungsatlas in Einzelbänden: P – Pessimismus
Eine Einzelstimmung von Thilo Hagendorff
Textem Verlag 2014
100 Seiten, 12 Euro
Unser täglich Klagen
Der kleine Stimmungsatlas vereint Essays über Stimmungen nach Alphabet. Im Band P - Pessimismus widmet sich der Philosoph Thilo Hagendorff kulturkritischen Grundhaltungen. Unser Redakteur Eika Gebhardt findet: Das ist zwar kein Buch über Pessimismus, aber eine pointierte Diagnose der Stimmung in den Feuilletons.
"Der Pessimismus [ist] immer eine Spielart geschichtsphilosophischer Metaphysik, da er aus aktuellen Krisenzuständen spekulativ auf einen linearen Entwicklungstrend, also auf eine permanent krisenhafte Zukunft schließt", glaubt der Thilo Hagendorff. Und obwohl er "praktische ... moralische ... philosophische ... psychische ... rhetorische ... ökonomische ...ästhetische" Motive prinzipiell unterscheiden will, spielen hier vor allem die rhetorischen, in zweiter Linie auch die philosophischen und psychologischen Gründe eine Rolle; die praktischen und ökonomischen fallen nicht weiter ins Gewicht, von ästhetischen liest man so gut wie nichts.
Kurzum, es geht eher um den Zeitgeist, eine Mode, könnte man denken. "Intellektuelle Erheiterungsarbeiten oder irgendwie triumphale Sprachspiele gibt es so gut wie keine", meint der Autor. Da wären ihm Teile der angelsächsischen Diskussion anzuraten, vor allem ein genauerer Blick auf das psychische Binnenverhältnis von Resignation und Handlungsfähigkeit – z.B. über Zwischenvariablen wie Trotz, Herausforderung, Spielfreude u. Ä. Ein Gemeinplatz der Jugendforschung ist längst das pessimistische Zukunftsbild im Verbund mit Zielstrebigkeit bis zur Selbstverleugnung. Dass Pessimismus "zur Passivität" verleite, mag logisch klingen, ist aber mitnichten empirisch zu belegen, schon gar nicht pauschal.
Psychoanalyse hat pessimistische Kultur begründet
Hagendorff dagegen geht es primär um kulturkritische Grundhaltungen, "Denkstimmungen" nennt er sie treffend. "Man pflegt einen Bemängelungshabitus, spricht von Entfremdung, Sinnkrisen, Identitätsverlusten, Ökonomisierung, Verdinglichung" und diese Ballung von Zeitdiagnosen führe zu "Selbstthematisierungsschleifen". Daran hätten verschiedene intellektuelle Moden mitgewirkt, nicht zuletzt die diskursiv allgegenwärtige Psychoanalyse mit ihrer Betonung des Unbewussten, also der Tendenz, "das Subjekt zu degradieren zur bloßen 'Puppe', welche von einer 'namenlosen Kraft' gesteuert wird, die nicht in ihm selbst liegt und auf die es keinen Einfluss hat. Mit dieser Theorieentscheidung hat die PsA eine geradezu pessimistische Kultur begründet."
Diesen Strang verfolgt der Autor bis zu Lacan und verknüpft ihn geschickt mit der Linie von Schopenhauer bis zu Gehlen, deren Vertreter den Menschen grundsätzlich als "Mängelwesen" sehen. Eher kühn und ein wenig willkürlich scheint dagegen die These, die aus einer pessimistischen Grundhaltung folgende "schicksalsgläubige Resignation ... verhindert eine ironische, kontingenzbewusste Weltsicht." Denn gerade ein grundsätzlich pessimistisches Menschenbild kann durchaus zu tatkräftigem Interventionismus führen . Und die momentane Blüte der Esoterik, auch im Gewand der Religion, zeugt womöglich vom Reiz stabilisierender, sinnstiftender, stellvertretender Identitäten. Der "Mangel an Subjekt" führt nicht unvermittelt in den Pessimismus, oft ist er ja die Öffnung zu fruchtbarer, fröhlicher Fremdbestimmung.