Sachbuch "Die Kanzler und ihre Familien"

"Liebe Bürger, wir sind Menschen wie ihr"

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Der damalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger während seines Urlaubs am 22. August 1967 in Kressbronn mit Tochter Viola Wentzel und Enkelin Fröschle. © picture-alliance / dpa
Holger Schmale im Gespräch mit Maike Albath · 06.05.2017
Kiesinger und sein "Fröschle", die Brandts als deutsche Kennedys, Gerhard Schröders Patchworkfamilie: Das Buch "Die Kanzler und ihre Familien" zeigt, wie deutsche Regierungschefs ihr Privatleben inszenierten. Ausnahme: Bundeskanzlerin Merkel, sagt Holger Schmale.
Nicht erst seit Willy Brandt inszenierten deutsche Bundeskanzler ihr Privatleben medienwirksam für die Öffentlichkeit: Den Anfang habe bereits Brandts Vorgänger Kurt Georg Kiesinger (CDU) gemacht, von 1966 bis 1969 deutscher Regierungschef, sagt der Journalist Holger Schmale, einer der Autoren des Buches "Die Kanzler und ihre Familien. Wie das Privatleben die deutsche Politik prägt."
Bei diesen Inszenierungen sei es darum gegangen zu zeigen, "wir sind auch normale Menschen wie ihr, ihr Bürger und ihr Wähler", so Schmale im Deutschlandfunk Kultur. In Kiesingers Fall: "Auch ich habe ein Enkelkind. Er nannte es Fröschle, das war allgemein bekannt damals: Herr Kiesinger und sein Fröschle."

Unbekannte Merkel

Kanzlerin Angela Merkel sei diejenige, die am wenigsten von ihrem Privatleben zeige, so Schmale. "Aber trotzdem: Sie ist über zehn Jahre Kanzlerin, und wir wissen natürlich inzwischen doch eine ganze Menge über ihre Art und Weise zu leben und auch privat zu leben und das Private nicht zu zeigen."
Das Buch zeige auch interessante Parallelen zwischen einzelnen Kanzlern, zum Beispiel zwischen Gerhard Schröder und Willy Brandt: Beide seien ohne Vater in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, betonte Schmale.
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Bundeskanzler Willy Brandt erholt sich bei einer Coca-Cola am Strand von Florida im Januar 1972. Brandt war gemeinsam mit seiner Familie zu einem Urlaub ins "Far Horizons"-Hotel nach Florida gefahren. © Horst Ossinger/dpa
Daran werde auch deutlich, wie sozial durchlässig die bundesdeutsche Politik lange Zeit war:
"Dass Leute wie Schröder und Brandt letztlich – aber Schröder ist an sich das beste Beispiel dafür – wirklich aus der tiefsten Unterschicht es schaffen können, an die Spitze des Landes zu kommen. Das ist schon etwas Besonderes, glaube ich, für die westdeutsche, bundesdeutsche Demokratie." (uko)
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Der Journalist Holger Schmale, einer der Autoren des Buches "Kanzler und ihre Familien" im Studio von Deutschlandfunk Kultur© Deutschlandradio

Das Interview im Wortlaut:
Maike Albath: Adenauer umgeben von seinen Kindern, Helmut Schmidt sah man oft an der Seite von Loki, Willy Brandt mit Frau Ruth und den Söhnen, Gerhard Schröder inmitten von Patchwork-Familienangehörigen, die Eltern von Angela Merkel haben auf der Tribüne im Bundestag einmal Platz genommen – das sind Schlaglichter aus dem Buch "Die Kanzler und ihre Familien" von Jochen Arntz und Holger Schmale. Holger Schmale ist jetzt bei mir im "Lesart"-Studio, guten Tag!
Holger Schmale: Guten Tag!
Albath: "Wie das Privatleben die deutsche Politik prägt", so lautet der Untertitel. Wie ist das denn bei Angela Merkel?
Schmale: Bei Angela Merkel, das ist nun eine der Kanzlerinnen, von der wir eigentlich am allerwenigsten über ihr Privatleben wissen, so wie sie es heute führt. Wir wissen, dass sie mit Herrn Professor Sauer zusammenlebt, der aber sich dadurch auszeichnet, dass er praktisch nie in Erscheinung tritt, jedenfalls in politischen Zusammenhängen nicht. Also Angela Merkel ist die Kanzlerin, die am wenigsten, tja, zeigt von ihrem Privatleben – aber trotzdem: Sie ist über zehn Jahre Kanzlerin, und wir wissen natürlich inzwischen doch eine ganze Menge über ihre Art und Weise zu leben und auch privat zu leben und das Private nicht zu zeigen.

Aufwachsen im Pfarrhaus

Albath: Das kann ja auch eine sehr sympathische Strategie sein, sie hat nicht einmal den Nachnamen ihres Mannes, dennoch hat ihre Herkunft sie sehr geprägt. Das ist ja auch ein Bestandteil Ihres Buches: der Blick zurück.
Schmale: So ist es, genau. Sie ist, das weiß man, in der DDR aufgewachsen, aber da unter ganz besonderen Bedingungen, nämlich in einem Pfarrhaushalt, kann man so sagen, aber auch das ist noch mehr. Das war in Templin eine Einrichtung, die ihr Vater geleitet hat, eine Fortbildungseinrichtung für Pfarrer in der DDR. Das Besondere war aber, dass dort gleichzeitig eine Behinderteneinrichtung untergebracht war, 200 Behinderte, geistig Behinderte haben dort gelebt, und die gehörten zum Alltag auch der Familie Kasner, so hieß die Ursprungsfamilie von Frau Merkel.
Und das ist etwas, was sie hier und da auch schon mal geschildert hat, dass sie das sehr beeinflusst und beeindruckt hat. Und ich glaube, ein Teil der Empathie, die wir an ihr sehen, gerade in der ganzen Flüchtlingsfrage und ihrer Haltung, die rührt daher, nämlich das Wissen, man muss Leuten helfen, man muss Menschen, die hilfsbedürftig sind, denen muss man helfen, ohne Ansehen, was da sonst noch eine Rolle spielt. Das hat sie geprägt, ja.
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Cover-Abbildung Jochen Arntz/Holger Schmale: "Die Kanzler und ihre Familien"© Foto: Dumont
Albath: Und auch dieses protestantisch Aufrechte und Aufrichtige, was wir oft an ihr wahrnehmen. Holger Schmale, es geht ja eigentlich los mit Willy Brandt, dass das Private eine größere Rolle spielt und inszeniert wird und mit eingesetzt wird. War er so etwas wie der Kennedy, der das dann auch ganz bewusst mit einbezogen hat? Wann ist dieser Punkt erreicht?
Schmale: Ja, also so sind sie damals dann von den Medien schon beschrieben worden als die deutschen Kennedys, und er hatte auch selber eine besondere Beziehung zu John F. Kennedy. Kennedy war halt der Modernisierer und der Reformer in den USA, die Rolle, die Willy Brandt in Deutschland anstrebte und dann ja auch wirklich innehatte. Er hatte Rut Brandt an seiner Seite und sie hatten drei Kinder. Das ist damals dann schon zunächst mal in Berlin, als er Regierender Bürgermeister war, schon sehr gezielt auch gezeigt worden, dieses Familienleben, das ist wahr. Allerdings muss ich sagen, der Allererste, der das gemacht hat, war Kurt Georg Kiesinger, der unmittelbare Vorgänger von Brandt. Es gibt Fotos von seiner letzten Reise in die USA im Jahr 1969 im Sommer, wo seine Familie mit dabei war, im Weißen Haus. Er hatte eine Tochter, die lebte in Washington, und Enkelkinder. Das wurde sehr gezielt gemacht, und viele deutsche Fotografen und Kameraleute waren dabei.

Loki Schmidt musste ihren Beruf aufgeben

Albath: Richtig, da gibt es diese anrührenden Fotos von dem etwas tapsigen Kleinkind, was natürlich auch ein ganz bestimmtes Licht geworfen hat immer auf die Figuren. Ging es darum, dass man sich menschlicher zeigen wollte, vollständiger präsentieren?
Schmale: Ja, so ist es sicher – zu zeigen, wir sind auch normale Menschen wie ihr, ihr Bürger und ihr Wähler, auch ich habe ein Enkelkind. Er nannte es Fröschle, das war allgemein bekannt damals: Herr Kiesinger und sein Fröschle. Also das hatte natürlich genau diesen Zweck.
Albath: Wie ist es mit den Ehefrauen, welche Rolle spielte zum Beispiel Loki Schmidt?
Schmale: Loki Schmidt spielte schon als Kanzlergattin eine sehr aktive Rolle. Sie war sehr präsent, damals auch schon – soweit Medien damals, ganz anders als heute natürlich, aber doch schon eine Rolle gespielt haben. Sie war sehr viel an seiner Seite, er hat sie sehr viel auf Reisen mitgenommen auch, was ungewöhnlich ist für Kanzler – normalerweise reisen Kanzler eher alleine, aber Loki Schmidt war viel dabei.
Und sie war insofern auch schon etwas Besonderes, als sie ja wirklich berufstätig war vorher, sie war Lehrerin, und hat sich dann beurlauben lassen und war sehr verärgert darüber, als die Schulbehörde dann irgendwann gesagt hat nach, ich weiß nicht, wie viel Jahren: Jetzt müssen Sie sich entscheiden, Frau Schmidt, entweder Sie hören ganz auf, scheiden aus aus dem Schuldienst oder Sie kommen zurück. Und da hat sie sich dann natürlich für ihren Mann entschieden und war aber darüber sehr verärgert.
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Der spätere Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) im Juli 1975 mit seinen Söhnen Walter und Peter beim Schwimmen im Wolfgangsee© picture alliance / dpa / Heinz Wieseler
Albath: Das ist auch ein Aspekt, den ich sehr verblüffend fand bei der Lektüre, dass es nämlich finanziell oft sehr kompliziert war damals, dass es gar nicht so ganz einfach war, so eine Familie überhaupt zu stemmen mit den Berufen der Männer, mit den Kanzlern. Also da hat sich grundsätzlich ja auch ein bisschen etwas verschoben.

Gerhard Schröder: vom "Asozialen" zum Bundeskanzler

Schmale: Also ich glaube, das ist eher eine Zeit und eine Phase gewesen, als diese Politiker noch nicht Kanzler waren.
Albath: Ach so.
Schmale: Das war, als sie Abgeordnete waren. Das war bei Helmut Schmidt zum Beispiel so. Als er nur Abgeordneter war, hat sie eben noch gearbeitet und mit der Tochter in Hamburg gelebt. Das heißt, es wurde gependelt, es wurden zwei Haushalte gebraucht, zwei Wohnungen gebraucht, das hat Geld gekostet. Ja, das war nicht so ganz einfach. Rut Brandt hat genau das Gleiche erzählt über ihre Zeit, als Willy Brandt Bundestagsabgeordneter war.
Albath: Sehr verblüffend ist es, was die Herkunft angeht, bei Gerhard Schröder – das vergegenwärtigt man sich auch, wenn man Ihr Buch liest –, weil er ja als Asozialer galt. Was hat ihn prädestiniert, Politiker zu werden?
Schmale: Er hat in einem Dorf in Niedersachsen gelebt mit seiner Familie, mit seiner Mutter und unter wirklich ganz besonders ärmlichen Verhältnissen. Und es war tatsächlich so, sie hießen… das waren die Asozialen im Dorf, und das war etwas, was er, tja, nicht auf sich sitzen lassen wollte einfach und zeigen wollte, was er kann.

Ehrgeiz und unbedingter Aufstiegswille

Und das war zunächst mal ein ganz persönliches Motiv für ihn, ja, zu schauen… Er hatte erst mal nur eine Lehre, also nur die Hauptschule gehabt und Lehre gemacht, und dann hat er sich weitergebildet, ist über den zweiten Bildungsweg gekommen, hat erkannt, wie wichtig Bildung ist, um Gleichberechtigung und Gerechtigkeit zu erzielen. Das sind Dinge, die ihn sehr geprägt haben, und das war, was ihn angetrieben hat.
Albath: Und wenn Sie das jetzt im Unterschied sehen zu jemandem wie Konrad Adenauer, kann man da so nen Phänotyp auch erkennen?
Schmale: Na ja, der Ehrgeiz ist sicherlich bei allen da und das Interesse, auch Macht auszuüben, das ist logisch, ohne geht es nicht. Konrad Adenauer kam aus grundsätzlich anderen Verhältnissen. Er kam aus ursprünglich kleinbürgerlichen Verhältnissen in Köln, dann heiratete er aber sozusagen in das große Kölner Bürgertum ein und hat das auch sehr genutzt. Er war ein sehr reicher Mann, Konrad Adenauer, zu seiner Zeit schon als Oberbürgermeister in Köln und später auch als Kanzler.
Das war natürlich bei der Familie Schröder ganz anders. Es gibt interessante Parallelen zwischen der Kindheit von Gerhard Schröder und von Willy Brandt, der eben auch in Lübeck unter sehr, sehr ärmlichen Verhältnissen, beide ohne Vater oder jedenfalls ohne den Vater zu kennen, ohne dass der Vater eine Rolle spielte in der Familie, aufgewachsen ist.

"Herr Brandt alias Frahm"

Albath: Das hat man ja auch instrumentalisiert damals bei Willy Brandt im Wahlkampf. Da sieht man dann ja auch, wie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse geändert haben. Was konnte man damals ausreizen, was heute nicht mehr möglich wäre?
Schmale: Na ja, diese uneheliche Herkunft von Willy Brandt ist damals namentlich von Adenauer instrumentalisiert worden. Das hing dann aber auch natürlich mit der politischen Herkunft Willy Brandts zusammen, der erst im Widerstand und dann im Exil war und ein aktiver Nazigegner war, und Willy Brandt war sozusagen sein Kampfname, den er erst im Exil angenommen hat. Er hieß ursprünglich Frahm, seine Familie, und das ist im Wahlkampf von Adenauer immer wieder genutzt worden, der immer von Herrn Brandt alias Frahm gesprochen hat, als wäre es ein Verbrecher.
Albath: Ich möchte noch mal auf diesen Typus Mensch zu sprechen kommen, der dann in die Politik geht und auch bestimmte Prägungen erfahren hat während seiner Kindheit. Ist das vielleicht auch etwas Spezielles in Deutschland? Also es ist ja doch eher, außer Gerhard Schröder, so ein bürgerliches Umfeld, aus dem die Politiker stammen. Wie würden Sie das beschreiben?

Soziale Durchlässigkeit in der Politik gibt es so nicht mehr

Schmale: In jüngerer Zeit stimmt das – ich muss gerade noch einen Moment nachdenken –, aber auch zum Beispiel Helmut Schmidt kam selber auch aus eher kleinen, ärmlichen Verhältnissen, insbesondere seine Frau auch.
Also ich würde eher das Umgekehrte, die umgekehrte These sogar sagen, dass bis hin zu Gerhard Schröder es zeigt, wie durchlässig letztlich deutsche Politik über viele, viele Jahre und Jahrzehnte – also die bundesdeutsche Politik – war, dass Leute wie Schröder und Brandt letztlich – aber Schröder ist an sich das beste Beispiel dafür – wirklich aus der tiefsten Unterschicht es schaffen können, an die Spitze des Landes zu kommen. Das ist schon etwas Besonderes, glaube ich, für die westdeutsche, bundesdeutsche Demokratie.
Albath: Und dass es so eine starke soziale Mobilität, in der Zeit auf jeden Fall, noch gab. Ein Punkt, den Sie immer wieder stark machen, ist, dass gesellschaftliche Entwicklungen sich abzeichnen auch an diesen Kanzlerfiguren und ihrem Umfeld. Was ist das, was da vorweggenommen wurde in der letzten Zeit?
Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder (l) und seine Frau Doris Schröder-Köpf sowie AWD-Gründer Carsten Maschmeyer am 04.09.2009 in der russischen Botschaft Berlin.
Beispielloser sozialer Aufstieg: Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, hier mit Doris Schröder-Köpf und dem Unternehmer Carsten Maschmeyer.© picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Schmale: Na ja, es geht letztlich immer, also wesentlich schon, um die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Und wenn man sich mit Familie beschäftigt, ist das ja klar, das ist halt die zentrale Figur der Familie ja auch.
Und das kann man sehr schön verfolgen jetzt über die Jahrzehnte und die verschiedenen Kanzler, wie die Rolle der Frau immer wichtiger wird und wie halt politisch daran gearbeitet wird, sie auch… Also sagen wir mal so, erst haben die Frauen selber daran gearbeitet. Das geht natürlich zurück auf die 68er-Bewegung, daher ja auch diese Parole: Das Politische ist privat und das Private ist politisch.
Das hat sich dann aber fortgesetzt und ist aufgenommen worden in die Politik. Und da spielte Willy Brandt als Erster eine wichtige Rolle, aber auch Gerhard Schröder und letztlich auch Angela Merkel, die die Politik von Schröder fortgesetzt hat.
Albath: Genauer kann man das alles noch nachlesen in dem Band "Die Kanzler und ihre Familien. Wie das Privatleben die deutsche Politik prägt" von Holger Schmale und Jochen Arntz. Vielen Dank für Ihren Besuch, Holger Schmale, in der "Lesart". Der Band ist erschienen bei Dumont, 260 Seiten kosten 22 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Holger Schmale, Jochen Arntz: Die Kanzler und ihre Familien. Wie das Privatleben die deutsche Politik prägt
Dumont, Köln 2017
272 Seiten, 22 Euro

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