Sachbuch

Das Elend der Leistungssubjekte

Radfahrer auf dem Tempelhofer Feld - die große Rund ist über sechs Kilometer lang.
Die Freiheit - der zentrale Wert moderner Gesellschaften - steckt in der Krise, meint der Autor Byung-Chul Han. © Eric Pawlitzky
Von Thorsten Jantschek · 09.08.2014
Die gefühlte Freiheit der Bürger demokratischer Rechtsstaaten ist eine Täuschung, so Byung-Chul Han. In Wirklichkeit seien wir Knechte ohne Herren, die sich freiwillig selbst ausbeuten und entblößen - bis zur Erschöpfung.
"Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", von den drei großen Forderungen der französischen Revolution ist die Freiheit zum Leitbild der Moderne geworden, zum Gassenhauer von politischen, gesellschaftlichen und individuellen Diskursen. Zumindest in der westlichen Welt wird sie als die historisch verwirklichte Errungenschaft der Aufklärung gefeiert. Wenn nun Byung-Chul Han eine umfassende Krise der Freiheit diagnostiziert, zielt er auf das Herz unseres kulturellen Selbstverständnisses. Denn, so seine These, die gefühlte Freiheit, als Bürger demokratischer Rechtsstaaten, als sich nach eigenen Vorstellungen entwerfende Subjekte, ja als mündige Konsumenten, ist eine Täuschung.
"Das Leistungssubjekt, das sich frei wähnt, ist in Wirklichkeit ein Knecht. Es ist insofern ein absoluter Knecht, als es ohne den Herrn sich freiwillig ausbeutet. Ihm steht kein Herr gegenüber, der ihn zur Arbeit zwingt."
Ein Knecht einer neoliberalen Ideologie, der es gelingt, alle Lebensbereiche zu durchdringen und auszubeuten, gerade weil diese Ideologie nicht bestimmte Restriktionen auferlegt, nicht sagt, was wir dürfen und was nicht, sondern weil sie uns zuflüstert: "Du kannst alles erreichen, alles werden, alles haben, wenn du nur willst, wenn du dich anstrengst, wenn du erfolgreich bist."
Diese Freiheit des Alles-Könnens bringt das Subjekt als Unternehmer seiner Selbst und zugleich als Arbeiter in diesem Unternehmen hervor. Bis zur Erschöpfung, bis zur Depression, bis zum Burn out, die Byung-Chul Han als Krisensymptome der Freiheit deutet. Gleichzeitig gibt sich diese Machtmaschine freundlich und anschmiegsam.
"Die smarte, freundliche Macht operiert nicht frontal gegen den Willen der unterworfenen Subjekte, sondern steuert den Willen zu ihren Gunsten. Sie ist eher jasagend als neinsagend. (...) Sie verführt, statt zu verbieten. Statt sich dem Subjekt entgegenzusetzen, kommt sie ihm entgegen. Die smarte Macht schmiegt sich der Psyche an, statt sie zu disziplinieren und Zwängen oder Verboten zu unterwerfen."
Trend zur Selbstoptimierung und Big Data
Diese Psychomacht bemächtigt sich unserer Emotionen, schreibt Han, um Handlungen auf einer vorreflexiven Ebene zu steuern und zu beeinflussen. Überall werden gute Emotionen gestiftet, werden wir positiv gestimmt, um uns selbst zu optimieren, sei es in der nächsten Beauty-Farm oder im Fitnessstudio. Und das Übrige – die Kontrolle unserer Wünsche – erledigen in der digitalen Welt die Algorithmen von Big Data, jener lächelnden Schwester von Big Brother, die unsere Interessen berechnet hat, bevor wir selbst sie kennen.
"Orwells Überwachungsstaat mit Teleschirmen und Folterkammern unterscheidet sich grundsätzlich vom digitalen Panoptikum mit Internet, Smartphone und Google Glass, das vom Schein grenzenloser Freiheit und Kommunikation beherrscht ist. Hier wird nicht gefoltert, sondern getwittert und gepostet. (...) An die Stelle der durch Folter erpressten Geständnisse tritt freiwillige Entblößung."
Die Wirkungsweise dieser merkwürdigen, obskuren Macht ohne Zwang nennt Han: Psychopolitik. Sie implantiert ihre Ziele direkt im Wunsch- und Gefühlssystem der handelnden Menschen. Damit ist sie allgegenwärtig und allmächtig. Und damit gibt es kein Außen der Macht mehr, nichts mehr, durch die man sie "erleidet". Was also könnte diese Macht noch aufhalten?
Autor hofft auf ein erlösendes Ereignis
Anders als der Politiktheoretiker Colin Crouch, der etwa gegen den Neoliberalismus versucht, eine wehrhafte Sozialdemokratie in Stellung zu bringen, hofft Han auf irgendein ominöses Ereignis, das den universalen Verblendungszusammenhang zerreißt, vielleicht eine Revolution oder eine Naturkatastrophe. Und Han hofft auf die – zumindest theoretische – Gegenfigur des Idioten.
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Cover: "Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken" von Byung-Chul Han© S. Fischer Verlag
"Der Idiot ist seinem Wesen nach der Unverbundene, der Nichtvernetzte, der Nichtinformierte. (...) Der Idiot als Häretiker ist eine Figur des Widerstandes gegen die Gewalt des Konsenses. Er rettet den Zauber des Außenseiters."
Idioten aller Länder, vereinigt Euch! Ist das der Ausweg aus dem Dilemma der Psychopolitik? Keineswegs. Gerade weil die Figur des Idioten keinen kollektiven Widerstand zulässt, keine kritische Öffentlichkeit stiftet, kann es für Han keinen Ausweg aus diesem universalen Machtzusammenhang geben.
Aber ist das wirklich so? Versperrt die Psychopolitik wirklich jeden Ausweg?
Natürlich nicht. Denn die öffentliche Auseinandersetzung um Big Data, um die Maschinen, die unser Denken übernehmen wollen, jene kritische Debatte, zur der gerade auch dieses Buch gehört, beweisen das Gegenteil. Byung-Chul Han widerlegt sich also selbst. Sein eigenes Denken bleibt in einem wohlfeilen Zeitgeistpessimismus stecken.

Byung-Chul Han: Psychopolitik
Neoliberalismus und die neuen Machttechniken
S. Fischer Verlag, Juli 2014
224 Seiten, 19,99 Euro, als E-Book 17,99 Euro